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II. FLÄCHE UND TIEFE

Nun kommt auch jene Ornamentik des Empire, die mit ihrer absoluten
Flächenhaftigkeit die Rokokodekoration mit ihrem Tiefenreiz ablöst. Daß
es und inwieweit es antike Formen gewesen sind, deren sich der neue Stil
bediente, ist gleichgültig neben der Grundtatsache, daß sie eine neue Pro-
klamation der Flächenschönheit bedeuteten, derselben Flächenschönheit, die
schon einmal in der Renaissance dagewesen war und dann dem zunehmenden
Verlangen nach Tiefenwirkungen hatte weichen müssen.

Eine Pilasterfüllung des Cinquecento mag in der Stärke des Reliefs und
im Reichtum der Schattenwirkung noch so weit über die dünnere und durch-
sichtigere Zeichnung des Quattrocento hinausgehen: ein genereller Stilgegen-
satz ist das noch nicht. Dieser kommt erst in dem Moment, wo der Ein-
druck der Fläche untergraben wird. Man wird auch dann noch nicht gleich
vom Verderb der Kunst reden dürfen. Zugegeben, daß die Qualität der deko-
rativen Empfindung früher durchschnittlich höher stand: prinzipiell ist auch
der andere Standpunkt möglich. Und wer am pathetischen Barocco keine
Freude haben kann, für den bietet die Grazie des nordischen Rokoko ja
Entschädigung genug.

Ein besonders instruktives Feld der Beobachtung liegt im Schmiedewerk
der Garten- und Kirchengitter, Grabkreuze, Wirtshausschilder vor, wo man
die planen Muster für unüberwindbar zu halten versucht ist und wo doch
durch Mittel aller Art eine Schönheit verwirklicht ist, die jenseits des Rein-
flächigen liegt. Je Brillanteres hier geleistet wurde, um so schlagender ist
dann der Gegensatz, wenn der neue Klassizismus auch hier die Ebene und
damit die Linie mit einer Entschiedenheit wieder zur Herrschaft bringt, als
ob eine andere Möglichkeit gar nicht denkbar wäre.

9 Wölfflin. Grundbegriffe

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