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Wölfflin, Heinrich [Honoree]; Wolters, Paul [Contr.]
Festschrift Heinrich Wölfflin: Beiträge zur Kunst- und Geistesgeschichte ; zum 21. Juni 1924 überreicht von Freunden und Schülern ; [zum 60. Geburtstag] — München, 1924

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https://doi.org/10.11588/diglit.28508#0068
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64 Der Wandel der Bildvorstellungen in der deutschen Dichtung und Kunst

schauungen“ eines Zeitalters
wird auch für diese die Einheit
zu erkennen sein. Der Dichter
findet sein Ideal auch in der
Kunst der Zeit, der Künstler das
seine auch in der Dichtung der
Mitlebenden erfüllt. Die Frage
nach den Grenzen und Möglich-
keiten der einzelnen Künste bleibe
der Ästhetik Vorbehalten. Der
Historiker kann hoffen, daß Dich-
tung und Kunst wie in anderer
Hinsicht auch hier sich ergän-
zen, daß die Werke des Malers
Weisung geben, wie die Bildvor-
stellungen der Dichtung gedacht
werden müssen, daß das Wort
Aufschlüsse erteilt über Sinn und
Abb. 1. Der Löwe zerreißt den Aufwärter (Thomaslegende) Meinung des Bildes. Sind nun

Aas den Passiones Apostolorum, München, Staatsbibliothek, um 1150 die Bild Vorstellungen in Kuiist

und Dichtung mutatis mutandis die gleichen, dann müssen sie auch den gleichen Ent-
wicklungsgesetzen folgen. Zur Gewinnung ausgeprägter Ansatzpunkte möchten wir von
vornherein diese Betrachtung stellen auf stilistische Gegensätze innerhalb der deutschen1)
romanischen Epoche, die Frühzeit und die Spätzeit, mit Unterdrückung der in der Dich-
tung wie in der Kunst nicht allzu wertvoll besetzten Mittelstufe, um an den kräftigen Kon-
trasten zwischen einem „älteren“ und einem „jüngeren“ Stil2) den gleichen Stilwillen im
Wandel der künstlerischen und dichterischen Bildvorstellungen zu erkennen.

Wenn man frühmittelalterliche Epen, geistliche wie volkstümliche, in der Erinnerung an sich
vorüberziehen läßt, so tauchen Menschen, Handlungen, Kämpfe, Reden in bunter Folge auf,
aber kaum einmal eine Örtlichkeit, kaum jemals wird sich ein Hintergrund mit einerSzene
verbunden haben. Eine Kontrolle, etwa beim Rolandslied, ergibt, daß die wenigen Stellen
mit Ortsangaben vollständig ertrinken in der Flut der übrigen Verse. Diese Neigung „die

') Die Abhängigkeit deutscher Dichtungen von französischen Quellen muß dabei ebenso unberücksichtigt
bleiben wie die Übernahmen in Werken der bildenden Kunst. Zu eigen machen kann sich eine Zeit
schließlich nur das, was in der Linie ihres Empfindens liegt, — so ist jede Übernahme auch Ausdruck
des Zeitwollens.

2) Bei der nicht von der Rücksicht auf optische Vorstellungen beeinflußten Charakterisierung eines älteren
epischen Stils, der im Volksepos bis in die Blütezeit sich erhält, kommen Schönbach (Über Hartmann
von Aue, 1894, S. 416f.) und Panzer (Hilde-Gudrun, 1901 — Das altdeutsche Volksepos, 1903) auf
ähnliche, aus dem „gänzlichen Mangel an Anschaulichkeit“ abgeleitete Merkmale, wie wir sie für unsere
ältere Stufe feststellen werden (vgl. auch H. Trautmann, Das visuelle und akustische Moment im mhd. Volks-
epos, Diss. Göttingen 1917). Andrerseits betonen die allgemeinen Analysen des höfischen Epos, ins-
besondere Wolframs, indem sie oft zu Vergleichen mit bildender Kunst greifen, — E. Martin von Parzival
(Germ. Handbibi. IX): „farbenreiches, warm empfundenes Gemälde“ (S. 49), „alle Einzelheiten gewis--
sermaßen plastisch vor Augen gestellt“ (S. 71) — die hohe Anschaulichkeit, die für uns die Grundlage
des jüngeren Stils bildet.
 
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