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Woermann, Karl; Woltmann, Alfred; Woltmann, Alfred [Hrsg.]; Woermann, Karl [Hrsg.]
Geschichte der Malerei (Band 2): Die Malerei der Renaissance — Leipzig: Verlag von E.A. Seemann, 1882

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https://doi.org/10.11588/diglit.48520#0051
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Die niederländifche Malerei des 15. Jahrhunderts.

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im Beiwerk und Coftüm wie in der Umgebung nicht minder fein und forgfam,
als die der flandrifchen Künftler, aber die poetifche Luftwirkung, das Vorwalten
des Lichtes, der Schmelz und die Wärme des Tons, welche uns bei Jan van Eyck
entzücken, hat er fich nicht angeeignet; er fieht alles gewiffermafsen in einer
kühlen Morgenflimmung; Mittelgrund und Hintergrund treten zu fcharf hervor.
Dabei kam aber Rogier’s Richtung nach einer beftimmten Seite hin der Volksthiim-
Zeitftimmung entgegen. Während Jan van Eyck für den intimen Kunflgenufs
der vornehmen Kreife fchuf, befriedigte Rogier das religiöfe Bedürfnifs des
Volkes. Das Leiden Chrifti, deffen Vergegenwärtigung das fromme Gemüth
verlangte, und das in keinem erhaltenen Werke der van Eyck den Vorwurf
bildet, auch im Genter Altar nur myftifch angedeutet ift, wurde für ihn zum
hauptfächlichen künfllerifchen Gegenftande. Er war felbft eine ftreng religiöfe
Natur, wie durch die urkundlichen Nachrichten über feine Aufnahme in eine
geiftliche Bruderfchaft und über Seelenmeffen, die feine Wittwe noch lange
nach feinem Tode zu ftiften fortfuhr, bewiefen ift, und fo fand er auch die
Sprache, um dem Volke zum Herzen zu reden. Van Mander rühmt ihn wegen
der »Darftellung der menfchlichen inwendigen Begierden und Neigungen, fei
es Trübfal, Gram oder Freude, wie das Werk es verlangt.« Gerade feine
Eigenart machte feinen Einflufs fo ausgedehnt und fo nachhaltig, wie es felbft
der unmittelbare Einflufs der van Eyck nicht gewefen war.
Ein berühmtes Hauptwerk Rogiers, das in älteren Quellen vorzugsweife Brüffeier
gefeiert wird, und bei deffen Gelegenheit ihn Dürer in feinem Reifetagebuch wider“5
»den grofsen Meifter Rudier« nennt, ift untergegangen, wahrfcheinlich bei der
Befchiefsung Brüffels im Jahre 1695: die vier grofsen Gemälde in der Golde-
nen Kammer (dem Gerichtsfaale) des Brüffeier Rathhaufes. Die nieder-
ländifchen Stadtgemeinden pflegten für den Geift, der in ihnen herrfchte, da-
durch Zeugnifs abzulegen, dafs fle in folchen Räumen Beifpiele ftrenger und
felbftlofer Gerechtigkeit bildlich darftellen liefsen, und zwar in Stoffen aus
Profangefchichte und Sage, die aus den Schriftftellern des Alterthums oder
aus mittelalterlichen Erzählungsbüchern gefchöpft waren. Zwei Vorgänge
diefer Gattung, bei welchen jedesmal der gerechten Handlung die göttliche
Belohnung entfpricht, alfo vier Bilder im Ganzen, hatte Rogier hier gemalt:
Trajan macht auf das Flehen einer Wittwe beim Aufbruch in den Feldzug
Halt, um den Mörder ihres Sohnes zu richten; Papft Gregor L, durch diefe
That gerührt, erbittet von Gott Gnade für die Seele des frommen Heiden und
erhält eine himmlifche Bürgfchaft für die Gewährung feiner Bitte, indem er
an dem zerfallenen Körper dös Kaifers deffen Zunge, die gerechtes Urtheil
gefprochen, unverweft findet. — Graf Herkenbald hatte vom Krankenlager
aus eines Frevels halber feinen eigenen Neffen zum Tode verurtheilt, wie das
Gefetz es befahl. Weil man den Tod des Herrn erwartete, war fein Gebot
unausgeführt geblieben. Als der Jüngling aber nach fünf Tagen wieder in das
Zimmer des Alten trat, winkte der ihn heran und erflach ihn mit eigener Hand.
Wie nun Herkenbald, dem Tode nahe, dem Bifchof gebeichtet hat, verweigert
ihm diefer die Abfolution, weil er die Tödtung des Neffen nicht als Sünde
beichten wollte; doch als der Bifchof fich zum Gehen wendet, zeigt ihm der
Sterbende in feinem Munde die Hoftie, die ihm durch ein göttliches Wunder
zu Theil geworden. So graufe Stoffe konnten einem Publicum nicht auffallend
 
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