80 BESPRECHUNGEN.
selbständige Menge zweifellos zu (Ruhm Schillers infolge der Säkularfeiern); aber
daraus darf nicht auf die Subjektivität und irrationale Ursache aller Wertentschei-
dungen geschlossen werden. Wer heute unter dem Einfluß Nietzsches sein Urteil
über Sokrates ändert, muß nicht notwendig nur einen Akt der Nachahmung be-
gehen. Die Beurteilung Nietzsches kann ihm vielmehr neue Realitäten in der Erschei-
nung des Sokrates erschließen, und nach diesen, nicht nach dem Vorgang Nietzsches
richtet sich das neue Urteil. Der »geheimnisvolle Rest« in jeder individuellen
historischen Erscheinung, das Sein im Gegensatz zum Schein, ist nicht die quantite
nvgligeable, als die es der Verfasser behandeln möchte. Das »an sich«, meint er,
sei der Erkenntnis nur mit äußerster Mühe und auch dann nie restlos zugänglich;
aber die Anwendung einer solchen Mühe wäre auch Verschwendung, und die
Beschränktheit der menschlichen Erkenntnisvermögen sei gerade in diesem Fall
wenig bedauerlich. Die Geltung dieses Satzes wird dann freilich auf den Kultur-
historiker beschränkt. Auf dessen Interessen ist überhaupt die ganze Untersuchung
abgestellt. Die Erkenntnis des Seins ist nur für den Individualpsychologen wichtig,
den die eminente Persönlichkeit nur als Exemplar des Menschentums interessiert.
Um dem Einfluß des Traditionalisinus zu entgehen, muß aber auch dieser die
phänographische Methode anwenden. Nur wo der Biograph auf die Eminenz eines
Individuums hinweist, das noch über keine Erscheinungsform verfügt, steht er
außerhalb des Traditionalismus. Selbst dann noch unterliegt er der Macht psychi-
scher Faktoren, wie des Verehrungs- und des Konzentrationsbedürfnisses, die das
Bild des Individuums verzerren.
Als ein Hauptmangel der Arbeit erscheint die Unklarheit, die der Verfasser in
dem Begriff des Historischen gelassen hat. Seine Behauptungen beziehen sich alle
auf diesen Begriff im Sinne von welthistorisch, kulturhistorisch. Für die Kultur-
geschichte bilden Beeinflussungen in der Tat einen wichtigen Gegenstand. Aber
es gibt noch einen anderen Begriff der Geschichte. Eine Kontinuität der geistigen
Ereignisse ist denkbar, die ganz innerlicher Art und von allen Meinungen, Er-
scheinungsformen fast ganz unabhängig ist. Die Geschichte eines Gedankens, eines
Problems z. B. unterliegt gewissen inneren Gesetzen: die verschiedenen Seiten eines
Problems treten erst nacheinander im Laufe der Zeiten heraus. Die Individuen, die
sie finden, dienen gleichsam nur der immanenten Entwicklung des Gedankens »an
sich«. Individuen, die von des Ruhmes Strahlenkranz umgeben sind, können in
dieser Hinsicht historisch wenig bedeuten, und andere, von denen niemand spricht,
haben den entscheidendsten Einfluß ausgeübt. Die Geschichte der talsächlichen
Entwicklung ist nicht mit der Geschichte der Meinungen über die Bedeutung ein-
zelner Männer und Werke identisch. Einfluß haben ist dem Verfasser gleich-
bedeutend mit Berühmtsein. Homer, Plato, Sophokles hätten demnach keinerlei
Einfluß auf die Entwicklung des deutschen Geisteslebens gehabt, solange sie nicht
für eminent gehalten wurden. Sie sind erst eminent, sobald sie als eminent er-
scheinen. Als ob es nicht einen viel wichtigeren, stilleren Einfluß gäbe, der von
der Erscheinungsform gänzlich unabhängig ist. Sophokles kann den tiefsten Ein-
fluß ausüben zu einer Zeit, wo er vergessen scheint. Die Bedeutung eines Schrift-
stellers als historischer Faktor nimmt keineswegs in dem Maße zu, als sein Ruhm bei
der Menge wächst. Es kann ganz umgekehrt sein. Nietzsches Wirkung war anfangs
vielleicht einflußreicher und bedeutungsvoller als heute, wo jedermann Phrasen aus
dem Zarathustra im Munde führt. Die Auffassung des Verfassers berücksichtigt nur
das Quantitative der Wirkung und setzt voraus, daß dies das Wichtigste sei. Nicht
einmal dem Kulturhistoriker ist diese Voraussetzung zu gestatten. Was berechtigt aber
den Verfasser, den Historiker mit dem Kulturhistoriker schlechtweg zu identifizieren?
selbständige Menge zweifellos zu (Ruhm Schillers infolge der Säkularfeiern); aber
daraus darf nicht auf die Subjektivität und irrationale Ursache aller Wertentschei-
dungen geschlossen werden. Wer heute unter dem Einfluß Nietzsches sein Urteil
über Sokrates ändert, muß nicht notwendig nur einen Akt der Nachahmung be-
gehen. Die Beurteilung Nietzsches kann ihm vielmehr neue Realitäten in der Erschei-
nung des Sokrates erschließen, und nach diesen, nicht nach dem Vorgang Nietzsches
richtet sich das neue Urteil. Der »geheimnisvolle Rest« in jeder individuellen
historischen Erscheinung, das Sein im Gegensatz zum Schein, ist nicht die quantite
nvgligeable, als die es der Verfasser behandeln möchte. Das »an sich«, meint er,
sei der Erkenntnis nur mit äußerster Mühe und auch dann nie restlos zugänglich;
aber die Anwendung einer solchen Mühe wäre auch Verschwendung, und die
Beschränktheit der menschlichen Erkenntnisvermögen sei gerade in diesem Fall
wenig bedauerlich. Die Geltung dieses Satzes wird dann freilich auf den Kultur-
historiker beschränkt. Auf dessen Interessen ist überhaupt die ganze Untersuchung
abgestellt. Die Erkenntnis des Seins ist nur für den Individualpsychologen wichtig,
den die eminente Persönlichkeit nur als Exemplar des Menschentums interessiert.
Um dem Einfluß des Traditionalisinus zu entgehen, muß aber auch dieser die
phänographische Methode anwenden. Nur wo der Biograph auf die Eminenz eines
Individuums hinweist, das noch über keine Erscheinungsform verfügt, steht er
außerhalb des Traditionalismus. Selbst dann noch unterliegt er der Macht psychi-
scher Faktoren, wie des Verehrungs- und des Konzentrationsbedürfnisses, die das
Bild des Individuums verzerren.
Als ein Hauptmangel der Arbeit erscheint die Unklarheit, die der Verfasser in
dem Begriff des Historischen gelassen hat. Seine Behauptungen beziehen sich alle
auf diesen Begriff im Sinne von welthistorisch, kulturhistorisch. Für die Kultur-
geschichte bilden Beeinflussungen in der Tat einen wichtigen Gegenstand. Aber
es gibt noch einen anderen Begriff der Geschichte. Eine Kontinuität der geistigen
Ereignisse ist denkbar, die ganz innerlicher Art und von allen Meinungen, Er-
scheinungsformen fast ganz unabhängig ist. Die Geschichte eines Gedankens, eines
Problems z. B. unterliegt gewissen inneren Gesetzen: die verschiedenen Seiten eines
Problems treten erst nacheinander im Laufe der Zeiten heraus. Die Individuen, die
sie finden, dienen gleichsam nur der immanenten Entwicklung des Gedankens »an
sich«. Individuen, die von des Ruhmes Strahlenkranz umgeben sind, können in
dieser Hinsicht historisch wenig bedeuten, und andere, von denen niemand spricht,
haben den entscheidendsten Einfluß ausgeübt. Die Geschichte der talsächlichen
Entwicklung ist nicht mit der Geschichte der Meinungen über die Bedeutung ein-
zelner Männer und Werke identisch. Einfluß haben ist dem Verfasser gleich-
bedeutend mit Berühmtsein. Homer, Plato, Sophokles hätten demnach keinerlei
Einfluß auf die Entwicklung des deutschen Geisteslebens gehabt, solange sie nicht
für eminent gehalten wurden. Sie sind erst eminent, sobald sie als eminent er-
scheinen. Als ob es nicht einen viel wichtigeren, stilleren Einfluß gäbe, der von
der Erscheinungsform gänzlich unabhängig ist. Sophokles kann den tiefsten Ein-
fluß ausüben zu einer Zeit, wo er vergessen scheint. Die Bedeutung eines Schrift-
stellers als historischer Faktor nimmt keineswegs in dem Maße zu, als sein Ruhm bei
der Menge wächst. Es kann ganz umgekehrt sein. Nietzsches Wirkung war anfangs
vielleicht einflußreicher und bedeutungsvoller als heute, wo jedermann Phrasen aus
dem Zarathustra im Munde führt. Die Auffassung des Verfassers berücksichtigt nur
das Quantitative der Wirkung und setzt voraus, daß dies das Wichtigste sei. Nicht
einmal dem Kulturhistoriker ist diese Voraussetzung zu gestatten. Was berechtigt aber
den Verfasser, den Historiker mit dem Kulturhistoriker schlechtweg zu identifizieren?