DER ANTEIL DES DENKENS AM MUSIKALISCHEN KUNSTGENUSS. 287
Musik zu der großen Wirkung kommen. Das Musikerlebnis war eben
ein von dem früheren total verschiedenes geworden, ja es war kein
eigentliches »Musikerlebnis mehr, sondern das Produkt vieler aus
ganz verschiedenen Bewußtseinssphären stammenden Faktoren, welche
eben das »Gesamtkunstwerke ausmachten. So ging das spezifisch
Musikalische in einem weit größeren Komplex von Vorstellungen und
Erlebnissen unter. In früheren Zeiten war die bessere Musik rein in-
tellektualistisch gewesen wie die Aufklärung und die ältere Psychologie.
Als der deutsche Intellektualismus dem Sensualismus der Romantik
weichen mußte, ging auch die Musik mit der Zeit. Wie die ältere
Musik zu Leibniz und Wolff, so verhält sich die neuere zu Schopen-
hauers Metaphysik. Energischer Wille und ausgeprägtes, leidenschaft-
liches Gefühl treten an die Stelle der allgemeinen Regungen einer
zahmeren Musik, die nur eine »allgemeinste Sprache«, ein »Abbild des
ganzen Willens« darstellt, wie sich Schopenhauer ausdrückt, der in
seiner Musiktheorie eine merkwürdige Mittelstellung zwischen dem mit
dem Klassizismus sympathisierenden Formalismus und der »materia-
listischen« Musikästhetik einnimmt und dessen Ausführungen eigent-
lich nur der feurigen und zugleich klaren italienischen Musik gerecht
werden. Aber auch im Tempel des musikalischen Kunstgenusses gibt
es viele Wohnungen. Auch die neue Weise des impressionistischen
Musikhörens hat ihr gutes Recht, solange ihren stark sinnlichen und
emotionalen Elementen in allgemein-menschlich hochbedeutsamen, er-
hebenden, ja philosophischen Gedanken ein kräftiges Gegengewicht
geboten wird. Diese zwei Seiten müssen freilich beim Genießenden
in überragendem Maße entwickelt sein: dann kommt es zu jener ge-
waltigen, früheren Geschlechtern unbekannten Wirkung.
Die Musik verliert hier ein gut Teil ihres persönlichen Charak-
ters. Es wurde schon erwähnt, daß sie infolge der Projektion mehr
oder minder stark als dialogisch empfunden wird. Dieser dialogische
Charakter erhält in der einfachen Gesangsmelodie den mehr indivi-
duellen, intimeren Anstrich eines Zwiegesprächs, in der Marsch-und
Tanzmusik dagegen den generellen, sozial bedeutsamen eines eine
Masse beherrschenden Gemeinschaftswillens, eines gemeinschaftlichen,
gegenseitigen Gebens und Spendens, Mitteilens und Entgegennehmens.
Das ohnehin schon vorhandene Gefühl der Zusammengehörigkeit, das
wir in einer Volksversammlung, in einer vaterländisch erregten Volks-
menge, auf einem Ball oder Fest haben, wird durch die Musik ins
Großartige gesteigert. Die Musik wird so zu einem einzigen alle um-
schlingenden Band, und ihre intellektuellen Elemente gestalten sich zu
einheitlichen wuchtigen Kundgebungen, lapidaren Urteilen, Äußerungen
Eines Willens, die jeder einzelne zu seinen eigenen macht. Über-
Musik zu der großen Wirkung kommen. Das Musikerlebnis war eben
ein von dem früheren total verschiedenes geworden, ja es war kein
eigentliches »Musikerlebnis mehr, sondern das Produkt vieler aus
ganz verschiedenen Bewußtseinssphären stammenden Faktoren, welche
eben das »Gesamtkunstwerke ausmachten. So ging das spezifisch
Musikalische in einem weit größeren Komplex von Vorstellungen und
Erlebnissen unter. In früheren Zeiten war die bessere Musik rein in-
tellektualistisch gewesen wie die Aufklärung und die ältere Psychologie.
Als der deutsche Intellektualismus dem Sensualismus der Romantik
weichen mußte, ging auch die Musik mit der Zeit. Wie die ältere
Musik zu Leibniz und Wolff, so verhält sich die neuere zu Schopen-
hauers Metaphysik. Energischer Wille und ausgeprägtes, leidenschaft-
liches Gefühl treten an die Stelle der allgemeinen Regungen einer
zahmeren Musik, die nur eine »allgemeinste Sprache«, ein »Abbild des
ganzen Willens« darstellt, wie sich Schopenhauer ausdrückt, der in
seiner Musiktheorie eine merkwürdige Mittelstellung zwischen dem mit
dem Klassizismus sympathisierenden Formalismus und der »materia-
listischen« Musikästhetik einnimmt und dessen Ausführungen eigent-
lich nur der feurigen und zugleich klaren italienischen Musik gerecht
werden. Aber auch im Tempel des musikalischen Kunstgenusses gibt
es viele Wohnungen. Auch die neue Weise des impressionistischen
Musikhörens hat ihr gutes Recht, solange ihren stark sinnlichen und
emotionalen Elementen in allgemein-menschlich hochbedeutsamen, er-
hebenden, ja philosophischen Gedanken ein kräftiges Gegengewicht
geboten wird. Diese zwei Seiten müssen freilich beim Genießenden
in überragendem Maße entwickelt sein: dann kommt es zu jener ge-
waltigen, früheren Geschlechtern unbekannten Wirkung.
Die Musik verliert hier ein gut Teil ihres persönlichen Charak-
ters. Es wurde schon erwähnt, daß sie infolge der Projektion mehr
oder minder stark als dialogisch empfunden wird. Dieser dialogische
Charakter erhält in der einfachen Gesangsmelodie den mehr indivi-
duellen, intimeren Anstrich eines Zwiegesprächs, in der Marsch-und
Tanzmusik dagegen den generellen, sozial bedeutsamen eines eine
Masse beherrschenden Gemeinschaftswillens, eines gemeinschaftlichen,
gegenseitigen Gebens und Spendens, Mitteilens und Entgegennehmens.
Das ohnehin schon vorhandene Gefühl der Zusammengehörigkeit, das
wir in einer Volksversammlung, in einer vaterländisch erregten Volks-
menge, auf einem Ball oder Fest haben, wird durch die Musik ins
Großartige gesteigert. Die Musik wird so zu einem einzigen alle um-
schlingenden Band, und ihre intellektuellen Elemente gestalten sich zu
einheitlichen wuchtigen Kundgebungen, lapidaren Urteilen, Äußerungen
Eines Willens, die jeder einzelne zu seinen eigenen macht. Über-