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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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Feldkeller, Paul: Der Anteil des Denkens am musikalischen Kunstgenuß, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0295
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288 PAUL FELDKELLER.

wältigt von diesem alle umfassenden und durchdringenden Fluidum,
fühlt sich jeder als Individuum klein und nur als Mitglied des Ganzen
stark und entäußert sich unwillkürlich alles Persönlichen, Allzu-indivi-
duellen, Eckigen und Schroffen und begabt ebenso die anwesenden
Mitmenschen mit lauter typisch menschlichen, liebenswürdigen Eigen-
schaften, die sie uns und uns ihnen näher bringen und eine Verstän-
digung und das Gefühl des Eins-seins herbeiführen. So gewinnt die
Musik einen nivellierenden Charakter, den sie in der besseren
impressionistischen Richtung so gut wie ganz wieder einbüßt. Das
sieht man deutlich wieder an einzelnen Sätzen von Beethovens Sym-
phonien, die eine erhaben einsame Sprache sprechen. Bei Wagner
aber tritt dieser monologische Charakter der Musik ganz aus
der individuellen Sphäre heraus, ja sie überwindet den Gegensatz von
Individualismus und Sozialismus. Denn angesichts der Wagnerschen
Bühne vergißt der adäquat aufnehmende Zuschauer und -hörer, daß
er ein Individuum ist und daß eine Menge Menschen um ihn herum
sitzen. Wie der Wagnersänger, so hält auch die Wagnersche Musik
keine Zwiesprache mit dem Hörenden. Sie ist unpersönlich wie der
antike Chor. Die agierende Person weiß nichts von Gesang und Musik.
Nicht sie singt, sondern das Orchester, und ihre Gesangsmelodie ist
nur ein Teil der Orchestermusik. Darum gibt es für Wagner keine
Sänger, sondern nur >Rollen«. So lebt diese Musik ihr geheimnis-
volles, einsames Leben; man könnte sagen: das Schicksal hält mit sich
selbst einsame Zwiesprache. Und die hier angedeutete Entwicklung
läuft parallel der des Denkens selbst. Das primitivste explizierte
Denken ist stets dialogisch, kommt nur in der Form der Mitteilung
und Zwiesprache vor. Das explizierte monologische Denken dagegen
entspringt viel späteren Bedürfnissen, und ebenso steht es mit der
Entwicklung der Musik.

Man sieht, es gibt eine bestimmte Art der Musik, welche des
Wortes bzw. der Hilfe des Gesichtssinnes dringend bedarf. Diejenigen
Musiker und Ästhetiker haben unrecht, welche die Musik für eine
Sprache von unmißverständlichem Ausdruck halten. Im Gegenteil ist
sie innerhalb gewisser Grenzen zweideutig und erhält erst mittels jener
außermusikalischen Hilfen eine für alle Hörer annähernd konstante
Bedeutung. Es haben aber auch die radikalen Formalisten unrecht
und zwar erstens darin, daß sie außer der intellektualistischen Musik
keine andere gelten lassen wollen, zweitens, soweit sie jeder Musik
eine nur innerhalb unendlich weiter Grenzen beliebig variable Be-
deutung zumessen, während diese vielmehr jedesmal nur eine bestimmte
Weite haben. Mit dem Dargelegten werden nun freilich eine Unmenge
von Fragen rege über das Verhältnis der resultierenden Gestaltqualität
 
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