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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 10.1915

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https://doi.org/10.11588/diglit.3818#0475
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Besprechungen.

Antonin Prandtl, Über die Auffassung geometrischer Elemente in
Bildern. Eine methodologische Untersuchung zur Kunstgeschichte und
Ästhetik. Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen. Heraus-
gegeben von Karl Marbe. Teubner, Leipzig 1914. II. Bd. V. Heft (S. 255
bis 301).
Von Komposition im Sinne einer irgendwie geometrisch-regelmäßigen An-
ordnung ist fast in jeder Beschreibung eines Figurenbildes die Rede. Wo eine
solche Regelmäßigkeit fehlt, wird wenigstens die Abwesenheit einer entschiedenen
»Tektonik«: erwähnt und zur Charakteristik benutzt. In der kunstgeschichtlichen
Literatur spielt der Begriff der Komposition zur Bezeichnung einzelner Perioden
eine große Rolle. Es gilt daher, über gewisse Bedenken klar zu werden, durch die
möglicherweise der wissenschaftliche Charakter aller dieser Bemühungen in Frage
gestellt wird. Da man sich, z. B. bei der Konstatierung einer Mittelachse, nicht auf
etwas berufen kann, was durch eine wirklich vorhandene Linie dargestellt ist, muß
man sich auf den eigenen Eindruck verlassen. Was gibt mir aber die Gewißheit,
daß ein anderer vor demselben Bilde denselben Eindruck erlebt? Ich kann mir ja
schließlich viele Linien in dem Bild gezogen denken, und alles wäre Willkür. Stil-
analytische Untersuchungen entbehren daher sehr oft derjenigen Allgemeingültig-
keit, die ein wissenschaftliches Verfahren voraussetzen müßte. Die Psychologie
erhebt sich gegen die Kunstgeschichte, um ihr das Unwissenschaftliche ihres bis-
herigen Verfahrens zu beweisen und ein neues Verfahren an die Hand zu geben.
Dieses neue, wissenschaftliche Verfahren besteht— in der Stimmensammlung
bei der Mehrheit, einer Mehrheit freilich, die nur unter den gebildeten Ständen ge-
sucht werden darf. Die Auffassungsweise der Mehrheit entscheidet; nur so ist
uns die Möglichkeit gegeben, uns von den Zufälligkeiten der individuellen Auf-
fassung zu befreien und zu einer allgemeingültigen Auffassung zu gelangen. Die
Auffassung dieser Mehrheit, nicht die eines Einzelnen, muß Gegenstand der kunst-
geschichtlichen Untersuchung sein, wenn man darüber hinauskommen will, mehr
oder minder willkürliche Meinungen vorzutragen.

Die Methode, die alles ausschließlich Individuelle in der Auffassung zu be-
seitigen gestattet, ist die experimentelle. Prandtl legt die Ergebnisse einer im
psychologischen Institut der Universität Würzburg entstandenen Untersuchung vor,
bei der er eine Anzahl photographischer Nachbildungen italienischer Heiligenbilder
seinen Versuchspersonen vorlegte mit der Aufforderung, das Gerüste der Kompo-
sition, ihre dominierenden Züge anzugeben. Die Hauptlinien wurden mit Bleistift
eingezeichnet und ein Protokoll aufgenommen. Es ergab sich, daß Zufälligkeiten
und typische Gewohnheiten sehr verschiedene Auffassungen veranlaßten. Eine
Versuchsperson z. B. findet auch in einem Bilde von Luini mit ausgesprochener
Mittelachse keine mittlere Senkrechte, eine andere neigt zu Kurven, eine dritte mehr
zu geraden Linien; manche betonen das Gleiche, manche das Ungleiche und Un-
regelmäßige usw. Trotzdem, meint Prandtl, muß diesen subjektiven Tendenzen
 
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