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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 12.1917

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Henning, Richard: Das Problem des Charakters der Tonarten
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https://doi.org/10.11588/diglit.3621#0041
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IL

Das Problem des Charakters der Tonarten.

Ein Versuch zur Lösung einer alten Streitfrage.

Von

Richard Hennig1).

Seit mehr als 200 Jahren findet man in der musikalischen Literatur
die Frage lebhaft umstritten, ob den einzelnen Tonarten objektiv ver-
schiedene »Charaktere« zukommen oder ob die zahlreichen Behaup-
tungen von Musikern und Nicht-Musikern, die deutliche Unterschiede
der Charaktere zu erkennen behaupten, lediglich auf subjektiven Er-
innerungen und persönlichen Eindrücken beziehungsweise Gedanken-
assoziationen beruhen. Wenn die Streitfrage bis heute als gänzlich
ungelöst bezeichnet werden muß, so kann dies bei der außerordent-
lichen Schwierigkeit des Gegenstandes nicht weiter verwundern. Läßt
sich doch, bei der Unbestimmtheit des Begriffs »Charakter«, ein ob-
jektiver zwingender Nachweis für das Vorhandensein von Charakter-
unterschieden der Tonarten nicht wohl erbringen, und die Beweis-
führung pro et contra bleibt in der Hauptsache auf das Gebiet der sub-
jektiven Empfindungen und persönlichen Überzeugungen beschränkt.
Mit Glaubenssätzen läßt sich aber bekanntlich eine wissenschaftlich
strenge Beweisführung nicht wohl erzielen.

Dazu kommt, daß die Debatte bisher so gut wie ausschließlich von
Musikern bestritten wurde. In wissenschaftlichen Kreisen besteht bis
heute eine geradezu ängstliche Scheu, sich mit dem etwas heiklen und
schwer faßbaren Thema abzugeben: von psychologischer Seite ist
meines Wissens überhaupt noch kein Versuch unternommen worden,
der Tonarten-Charakteristik wissenschaftlich beizukommen, und die
Physiologie und Ästhetik haben wohl gelegentlich den Gegenstand
angeschnitten, aber sie begnügten sich dann, wie z. B. Fr. Th. Vischer,
Helmholtz und andere, damit, die Frage aufzuwerfen, und gingen dem
Versuch, sie zu beantworten, aus dem Wege. Die sehr große Schwierig-
keit der Beweisführung macht diese Zurückhaltung erklärlich.

') Nach einem vor der Psychologischen Gesellschaft zu Berlin am 6. Juli 1916
gehaltenen Vortrag.
 
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