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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 12.1917

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Henning, Richard: Das Problem des Charakters der Tonarten
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https://doi.org/10.11588/diglit.3621#0042

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36 RICHARD HENNIG.

Trotzdem scheinen sich einige Möglichkeiten zu ergeben, dem
schwierigen Thema auch mit objektiven Beweisen beizukommen, und
wenn es auch niemals möglich sein wird, eine allen Anforderungen
strenger Logik und Wissenschaft genügende, in sich geschlossene
und unangreifbare Beweisführung auf ein so heikles Problem anzu-
wenden, so lassen sich doch immerhin gewisse Wahrscheinlichkeits-
beweise führen und wissenschaftlich annehmbare Hypothesen begrün-
den, um den sonst unfruchtbaren und hoffnungslosen Meinungsstreit
einzudämmen und einen gewissen Ausgleich der entgegengesetzten
Anschauungen durch Konzentrierung auf einige schärfer umrissene
und leichter diskutierbare Spezialfragen zu erreichen.

Um zunächst einen kurzen historischen Überblick über die Ent-
wicklung der Streitfrage zu geben, so sei bemerkt, daß der wohl
älteste systematische Versuch, jeder Tonart einen bestimmten Charakter
zuzuschreiben, schon im Jahre 1713 von Mattheson unternommen
wurde. Seinen Spuren folgten — um nur einige der wichtigsten lite-
rarischen Versuche dieser Art zu nennen — unter anderem Schubart,
der bekannte »Gefangene von Hohenasperg«, im Jahre 1806 in einem
»nachgelassenen Werk«, ferner 1822 der berühmte E. T. A. Hoffmann,
1838 Schilling, 1862 Marx usw. Alle diese Auslassungen von aus-
gesprochenen Anhängern der Lehre von der Charakteristik der Ton-
arten arbeiteten jedoch mit rein subjektiven Empfindungen und machten
nicht einmal den Versuch nachzuweisen, daß diesen Empfindungen
eine objektiv vorhandene Ursache für die Verschiedenartigkeit der
Charaktere gegenüberstehe. Zum Teil waren die jeweiligen Schilde-
rungen sogar bewußt subjektiv, wie z. B. der mehr künstlerisch ästhe-
tisierende Versuch E. T. A. Hoffmanns in den »Kreisleriana«, zum Teil
war den Beschreibungen der Tonartencharaktere so viel offen zutage
liegende Willkür, Phantasie und Wortüberschwenglichkeit zu eigen
— ganz besonders den Schillingschen Definitionen — daß man von
vornherein äußerst mißtrauisch werden mußte, ob der Verfasser nicht
lediglich persönliche Begriffsspielereien statt allgemein gültiger Defi-
nitionen geboten habe. — Den ersten Ansatz, die Charakterunter-
schiede der Tonarten zu beweisen, unternahm Friedr. Theod. Vischer
(»Ästhetik« Bd. III, S. 877), indem er äußerte:

»Anderseits wird durch den seit Jahrhunderten konstanten Ge-
brauch einzelner Tonarten für gewisse musikalische Stimmungs-
und Ausdrucksweisen der Gedanke jedoch immer nahegelegt, ob
nicht in der Lehre von den Tonartencharakteren irgend etwas
wahr sein möge.«
Auch dies war freilich kein Beweis, sondern nur eine Vermutung, die
eine gewisse Skepsis durchschimmern ließ.
 
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