Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 12.1917

DOI Artikel:
Herrfahrdt, Heinrich: Aufgaben und Methoden einer normativen Kunstwissenschaft
DOI Artikel:
Bemerkungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3621#0242

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
236 BEMERKUNGEN.

nahmefähigkeit liegt z. B. vor, wenn man an Erscheinungen der Wirklichkeit oder
an Kunstwerken, die ein für gesunde Begriffe unwesentliches, formal-ästhetisches
Prinzip verletzen, so stark Anstoß nimmt, daß man sie nicht mehr genießen kann.
Die Schwäche zeigt sich weiter im Handeln, indem man in den Mitteln seiner
Tätigkeit zu sehr beschränkt wird, und sie zeigt sich vor allem in der Urteilskraft,
indem man wertvolle Dinge, die sich in unvollkommenem Gewand zeigen, nicht
würdigen kann. Diese Erscheinungen stellen die normative Lehre vom Kunst-
genießen vor das Problem, welchen Gang die ästhetische Bildung nehmen muß,
um einerseits zu einer möglichst hohen Betätigung der ästhetischen und ästheti-
formen Kultur zu gelangen, anderseits aber ohne Empfindlichkeit Verstöße gegen
die formalen Prinzipien in Kauf nehmen zu können, wo sie zugunsten höherer
Werte ertragen werden müssen. Es ist ein Prinzip des Sich-umschalten-könnens
zwischen verschiedenen Einstellungen des Gefühls, ein Problem der richtigen
Mischung von ästhetischen und außerästhetischen Werteindrücken einerseits und
von Eindrücken der verschiedenen formal-ästhetischen Prinzipien anderseits.

Besonders schwierige Probleme gibt die Tatsache der ästhetischen Rang-
ordnung auf. Ich kann sie hier nur andeuten. Einerseits liegt eine Gefahr in
der einseitig orientierten ästhetischen Rangordnung, die nicht zugleich eine geistig-
sittliche Rangordnung ist. Anderseits ist die richtig orientierte ästhetische Rang-
ordnung nur dann etwas Wertvolles, wenn sie zugleich ein Macht- und Autoritäts-
verhältpis ist. Ein solches ist aber durch die höhere ästhetische Bildung nicht ohne
weiteres gegeben; es ist nur da, sofern die ästhetische Bildung sich schöpferisch
auswirkt im künstlerischen Schaffen oder in der ästhetischen Kultur, und es kann
sogar beeinträchtigt sein, sofern die ästhetische Bildung eine Einschränkung der
außerästhetischen Machtmittel zur Folge hat. Das Problem ist also, die Hegemonie
der im ganzen höchstorganisierten Menschen mit einer ästhetischen Daseinsform
auszustatten, die ihnen eine Macht und keine Hemmung ist.

Zur Erinnerung an Hugo Münsterberg.

I.

Nach Meumann und Külpe ist nun auch Münsterberg auf der Mittagshöhe
des Lebens vom Tode ereilt worden. Er starb, als gerade Deutschlands Friedens-
vorschlag nach Amerika gemeldet worden war. Glücklich über des Kaisers Ein-
greifen, in der sicheren Erwartung baldigen Friedens nahm er an einem blauweißen
Schneemorgen Abschied von der Gattin — eine halbe Stunde später, mitten in einer
Vorlesung, brach er bewußtlos zusammen und war tot. Das Vaterland verlor einen
tapferen Vorkämpfer, die Familie einen guten und treuen Menschen, das Leben
einen überzeugten Anhänger, denn obgleich Münsterberg nicht immer Glück gehabt
hat, ist er doch glücklich gewesen.

Was die Wissenschaft in Hugo Münsterberg verloren hat, kann hier nur nach
einer Seite hin erörtert werden. Die Leser wissen, daß in den »Prinzipien der
Psychologie« die physiologische Psychologie als vereinbar mit Fichtes ethischem
Idealismus dargestellt wird, hiermit aber auch die fachwissenschaftliche Psychologie
sich von der Philosophie ablöst. Die Folge ist, daß ästhetische Fragen in den
exakt-psychologischen Arbeiten der Münsterbergschen Schule auftreten — worüber
 
Annotationen