FRÜHGOTIK DER DEUTSCHEN PLASTIK.
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Wenn dieser hier um 1230 angenommen wird, so geschieht es im
nachdrücklichen Widerspruch zu einer verbreiteten Meinung, die die Pla-
stik des 13. Jahrhunderts (im Gegensatz zur Architektur) als dem Wesen
nach romanisch begreift; „gotisch" sind ihr die Straßburger Propheten,
die Apostel des Kölner Domchores; Bamberg-Naumburg gilt ihr als ro-
manisch. Ein Kriterium gotischer Plastik ist nach Wilhelm Pinder die
„einheitliche Durchbiegung" und „Unterordnung unter eine beherr-
schende Ausdruckslinie". Dieses Kriterium trifft, angewendet auf das
klassische Dreizehnte, nicht zu. Aber — bezieht sich diese Feststellung
nur auf Deutsches, bezieht sie sich auch auf Französisches? Es wurde
noch nicht gehört, daß irgend jemand die Statuen an den Portalen von
Reims und Amiens romanisch genannt hätte. Der Grund: sie sind allzu
sichtbar gotischen, bis ins Letzte gotischen Bauwerken verhaftet. So
möchte es sinnlos erscheinen, sie anders als gotisch zu nennen. Aber jenes
Kriterium ergibt, daß sie es nicht sind. Denn, dominierendes Motiv
wird die Ausdruckslinie auch in Frankreich erst da, wo das „Dreizehnte"
anfängt, „Vierzehntes" zu werden — um und nach Mitte des Jahrhunderts
(Madonna am Nordquerschiff von Notre-Dame zu Paris, Vierge doree
in Amiens). Es hieße nun aber die Dinge recht oberflächlich beurteilen,
wollte man die Ausdruckslinie nicht auch schon dem klassischen Drei-
zehnten als einen sehr sichtbaren Wert zuerkennen. In Frankreich und
in Deutschland; und merkwürdiger Weise hier sichtbarer als dort. Schon
jetzt (um 1230) läßt sich ahnen, daß die deutsche Kunst das Motiv
entschiedener als die französische aufnehmen, daß sie es in seine letzten
Konsequenzen hinein verfolgen wird. Ursache ist das zu elementaren
Ausbrüchen drängende, Ausdruck über Form stellende Wesen deutscher
Kunst, an dem gemessen französische sich stets von einer geheimen Ader
Klassizismus, aufsteigend aus einer letzten Tiefe nationaler Artung,
durchzogen zeigt.
III.
Es ist heute üblich, die seit längerem eingeführte Aufteilung der
Bamberger Domskulpturen in eine ältere und jüngere Gruppe in An-
führungszeichen zu setzen — und mit Recht. Aber da nun das, was mit
ihnen gesagt sein soll, nämlich die annähernde, teilweise völlige Gleich-
zeitigkeit der beiden Gruppen, einer besonderen Hervorhebung nicht mehr
bedarf, kann man sich ihres Gebrauches nunmehr entwöhnen. Es ist
freilich nur bedingt richtig, da von Gleichzeitigkeit zu sprechen, wo diese
doch nur eine äußere sein kann, und überdies ein Teil der Skulpturen,
d. h. ein Teil der älteren Gruppe de facto auch rein zeitlich der ältere ist.
Die Feststellung der Gleichzeitigkeit des seinem Wesen nach Älteren und
Jüngeren (eine sehr berechtigte Reaktion gegen eine Geschichts-
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Wenn dieser hier um 1230 angenommen wird, so geschieht es im
nachdrücklichen Widerspruch zu einer verbreiteten Meinung, die die Pla-
stik des 13. Jahrhunderts (im Gegensatz zur Architektur) als dem Wesen
nach romanisch begreift; „gotisch" sind ihr die Straßburger Propheten,
die Apostel des Kölner Domchores; Bamberg-Naumburg gilt ihr als ro-
manisch. Ein Kriterium gotischer Plastik ist nach Wilhelm Pinder die
„einheitliche Durchbiegung" und „Unterordnung unter eine beherr-
schende Ausdruckslinie". Dieses Kriterium trifft, angewendet auf das
klassische Dreizehnte, nicht zu. Aber — bezieht sich diese Feststellung
nur auf Deutsches, bezieht sie sich auch auf Französisches? Es wurde
noch nicht gehört, daß irgend jemand die Statuen an den Portalen von
Reims und Amiens romanisch genannt hätte. Der Grund: sie sind allzu
sichtbar gotischen, bis ins Letzte gotischen Bauwerken verhaftet. So
möchte es sinnlos erscheinen, sie anders als gotisch zu nennen. Aber jenes
Kriterium ergibt, daß sie es nicht sind. Denn, dominierendes Motiv
wird die Ausdruckslinie auch in Frankreich erst da, wo das „Dreizehnte"
anfängt, „Vierzehntes" zu werden — um und nach Mitte des Jahrhunderts
(Madonna am Nordquerschiff von Notre-Dame zu Paris, Vierge doree
in Amiens). Es hieße nun aber die Dinge recht oberflächlich beurteilen,
wollte man die Ausdruckslinie nicht auch schon dem klassischen Drei-
zehnten als einen sehr sichtbaren Wert zuerkennen. In Frankreich und
in Deutschland; und merkwürdiger Weise hier sichtbarer als dort. Schon
jetzt (um 1230) läßt sich ahnen, daß die deutsche Kunst das Motiv
entschiedener als die französische aufnehmen, daß sie es in seine letzten
Konsequenzen hinein verfolgen wird. Ursache ist das zu elementaren
Ausbrüchen drängende, Ausdruck über Form stellende Wesen deutscher
Kunst, an dem gemessen französische sich stets von einer geheimen Ader
Klassizismus, aufsteigend aus einer letzten Tiefe nationaler Artung,
durchzogen zeigt.
III.
Es ist heute üblich, die seit längerem eingeführte Aufteilung der
Bamberger Domskulpturen in eine ältere und jüngere Gruppe in An-
führungszeichen zu setzen — und mit Recht. Aber da nun das, was mit
ihnen gesagt sein soll, nämlich die annähernde, teilweise völlige Gleich-
zeitigkeit der beiden Gruppen, einer besonderen Hervorhebung nicht mehr
bedarf, kann man sich ihres Gebrauches nunmehr entwöhnen. Es ist
freilich nur bedingt richtig, da von Gleichzeitigkeit zu sprechen, wo diese
doch nur eine äußere sein kann, und überdies ein Teil der Skulpturen,
d. h. ein Teil der älteren Gruppe de facto auch rein zeitlich der ältere ist.
Die Feststellung der Gleichzeitigkeit des seinem Wesen nach Älteren und
Jüngeren (eine sehr berechtigte Reaktion gegen eine Geschichts-