326 ALEXANDER FREIHERR v. REITZENSTEIN.
lieh. Die Symmetrie, als ein Ordnungsprinzip unbewegter Flächen, will
von einem, unverrückbar festgelegten Standpunkt aus, gleichmäßig
nach links und rechts hin abgelesen werden. So läßt der Wolfram keinen
anderen Standpunkt als den auf der zu seinem Mittellot senkrechten Achse
seiner Standfläche zu.
Die Ausbreitung in den Dimensionen der Fläche enthält nun ein
fruchtbares Entwicklungsmoment, das, seiner Endeswirkung nach gegen
die elementare Manifestation des Stiles gerichtet, in die Spätphase hinein-
führt. Seine Keimzelle ist die form- und grenzbezeichnende Linie, die —
sowohl Abgrenzung, in der sich die Teilmassen voneinander absetzen,
als Ausdruck des plastischen Grades der Fläche —, zunächst sparsam,
fast nur an den erforderlichen Stellen eingetragen, als Binnenzeichnung
im Verlaufe der Entwicklung eine Bereicherung erfährt, die sie endes-
endlich zu autonomer Liniensprache verselbständigt. Das Substrat der
Gestaltung bleibt zwar noch die Masse, aber in einer entscheidenden
Verwandlung. Sie überstellt nicht mehr die Stereometrie ihrer anorgani-
schen Herkunft, sie verliert den additiven Charakter und verschmilzt ihre
Teile zu unauflösbarer Einheit. Dieses schließliche Resultat muß als die
Leistung der Linie gedeutet werden. Die Linie umfängt, umkreist die
Masse und schließt sie mit ihren Teilen in einem dichtmaschigen, eng
gespannten Netz geballt zusammen. Indem sich die Masse nun gleich-
sam in heftigen Vorstößen der Umschnürung zu entledigen sucht, gewinnt
die Gestaltung das wirksame Moment der Antagonie. In ihrer Funktion,
die in ihre Teile auseinanderstrebende Masse homogen zusammen-
zuschweißen, sättigt sich die Linie mit dem Ausdruck von Energien und
setzt sich endlich im Verlaufe dieser ihrer Funktion in plastische Bahnen
um. Diese Stufe ist in der Chorschrankenplastik von Hildesheim und
Halberstadt erreicht und vollendet in der des Bamberger Georgenchors.
Die zur Einheit verschmolzene, gleichsam weich und gelenkig gewordene
Masse ist nun imstande, den Zwang der Frontalität zu durchbrechen und
Impulse des Organischen in sich aufzunehmen.
Die Linie hat kaum ihre Funktion erfüllt — die Masse vereinheit-
licht —, als sie schon beginnt funktionslos zu werden. Sie wird Kali-
graphie. Aber gleichzeitig ist das neue Substrat der Gestaltung, der
statuarische Körper schon da. Ein letztes kurzes Aufschäumen in freier
zweckloser Selbstentfaltung, dann gleitet sie von ihm ab.
Die Entwicklung vom 12. ins 13. Jahrhundert stellt sich nun so dar,
daß sich die Gestaltung als wesenhaft romanische zunächst einer ihr
fremden Gesetzlichkeit unterstellt (um 1150), sich dann dieser in stetiger
Auseinandersetzung allmählich entäußert (um 1180—1200), um sie end-
lich gegen ihre eigene Gesetzlichkeit auszutauschen (um 1230). Im Ziel-
punkt setzt die Gotik ein.
lieh. Die Symmetrie, als ein Ordnungsprinzip unbewegter Flächen, will
von einem, unverrückbar festgelegten Standpunkt aus, gleichmäßig
nach links und rechts hin abgelesen werden. So läßt der Wolfram keinen
anderen Standpunkt als den auf der zu seinem Mittellot senkrechten Achse
seiner Standfläche zu.
Die Ausbreitung in den Dimensionen der Fläche enthält nun ein
fruchtbares Entwicklungsmoment, das, seiner Endeswirkung nach gegen
die elementare Manifestation des Stiles gerichtet, in die Spätphase hinein-
führt. Seine Keimzelle ist die form- und grenzbezeichnende Linie, die —
sowohl Abgrenzung, in der sich die Teilmassen voneinander absetzen,
als Ausdruck des plastischen Grades der Fläche —, zunächst sparsam,
fast nur an den erforderlichen Stellen eingetragen, als Binnenzeichnung
im Verlaufe der Entwicklung eine Bereicherung erfährt, die sie endes-
endlich zu autonomer Liniensprache verselbständigt. Das Substrat der
Gestaltung bleibt zwar noch die Masse, aber in einer entscheidenden
Verwandlung. Sie überstellt nicht mehr die Stereometrie ihrer anorgani-
schen Herkunft, sie verliert den additiven Charakter und verschmilzt ihre
Teile zu unauflösbarer Einheit. Dieses schließliche Resultat muß als die
Leistung der Linie gedeutet werden. Die Linie umfängt, umkreist die
Masse und schließt sie mit ihren Teilen in einem dichtmaschigen, eng
gespannten Netz geballt zusammen. Indem sich die Masse nun gleich-
sam in heftigen Vorstößen der Umschnürung zu entledigen sucht, gewinnt
die Gestaltung das wirksame Moment der Antagonie. In ihrer Funktion,
die in ihre Teile auseinanderstrebende Masse homogen zusammen-
zuschweißen, sättigt sich die Linie mit dem Ausdruck von Energien und
setzt sich endlich im Verlaufe dieser ihrer Funktion in plastische Bahnen
um. Diese Stufe ist in der Chorschrankenplastik von Hildesheim und
Halberstadt erreicht und vollendet in der des Bamberger Georgenchors.
Die zur Einheit verschmolzene, gleichsam weich und gelenkig gewordene
Masse ist nun imstande, den Zwang der Frontalität zu durchbrechen und
Impulse des Organischen in sich aufzunehmen.
Die Linie hat kaum ihre Funktion erfüllt — die Masse vereinheit-
licht —, als sie schon beginnt funktionslos zu werden. Sie wird Kali-
graphie. Aber gleichzeitig ist das neue Substrat der Gestaltung, der
statuarische Körper schon da. Ein letztes kurzes Aufschäumen in freier
zweckloser Selbstentfaltung, dann gleitet sie von ihm ab.
Die Entwicklung vom 12. ins 13. Jahrhundert stellt sich nun so dar,
daß sich die Gestaltung als wesenhaft romanische zunächst einer ihr
fremden Gesetzlichkeit unterstellt (um 1150), sich dann dieser in stetiger
Auseinandersetzung allmählich entäußert (um 1180—1200), um sie end-
lich gegen ihre eigene Gesetzlichkeit auszutauschen (um 1230). Im Ziel-
punkt setzt die Gotik ein.