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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 27.1933

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https://doi.org/10.11588/diglit.14172#0362
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348

BESPRECHUNGEN.

einzigartig, unvergleichbar und jenseits aller kausalen Verknüpfungen stehend gilt,
muß der Literaturforscher vergleichen, vernunftmäßig ordnen, ursächlich beziehen.
Aber auch der Wissenschaftler entwirft vom Dichter ganz verschiedenartige Bilder
je nach seiner Auffassung von den Aufgaben der Literaturgeschichtsschreibung
überhaupt. M. läßt einige Typen literarhistorischer Porträtisten an uns vorüber-
ziehen. Da ist der „naive Individualismus" eines Qervinus, dessen von patriotisch-
kulturpolitischer Absicht beherrschte Gesamt-Literaturdarstellung sich auf die
idealisierte Einzelgestalt als ethische Persönlichkeit abstellt. In seiner Nachfolge
zeigt die Scherer-Schule „eine weiteste Entfernung vom Zentrum des dichterischen
Verhaltens an"; „die Frage nach der außerempirischen Existenz, dem meta-
physischen Ursprung des Genies ist völlig verloren gegangen und führt nur in der
meist stumm vorausgesetzten Erhabenheit »unserer Dichterheroen« über jede Kritik
ein blasses Leben weiter. An die Stelle ihrer genialen menschlichen Existenz ist ein
kompliziert totes Hinundher von »Einflüssen« getreten". Ihre Periodisierungen in
Biographie und Gesamt-Literaturgeschichte nennt M. „Konstruktionen aus Hilf-
losigkeit"4). Diese Betrachtungsweise hat dann den „oppositionellen Individualis-
mus" ins Feld gerufen, wie ihn etwa die Goethebilder Herman Grimms, Cham-
berlains und Gundolfs oder ein Buch wie Ernst Bertrams Nietzsche zeigen und
der seinerseits eine Art „Gestalfmetaphysik" und „Kult des Symbols" darstellt.
Zwischen dem „naiven" und dem „oppositionellen" Individualismus schließlich hat
eine philosophisch-ästhetische Betrachtungsweise, eine Art philosophische Literatur-
wissenschaft ihren Platz, „die in die Lehre von einer polaren Wechselbeziehung
zwischen Individuum und Geschichte ausklingt". Ihr, die nicht als ein Besser, son-
dern „wie die andern [als] unvergängliche Stufe in der Entwicklung des wissen-
schaftlichen Geistes" zu werten ist, „beeinträchtigt" „weder ein heldisch-personelles,
noch ein politisch-organisatorisches, noch ein nachschöpferisches Moment ... die
Ruhe . . . forschender Versenkung". Hierher zählt M. etwa D. F. Strauß, F. Th.
Vischer, Rosenkranz, Berger, Kuno Fischer, Danzel, Haym, Hettner, Hehn, findet
aber die „große Tradition der geistesgeschichtlichen Betrachtung" noch nicht so
sehr bei den Hegelianern wie bei Dilthey, „der die von Hegel mehr theoretisch
erfüllte personale Einheit von Philosophie und Literaturwissenschaft verkörpert".
Die wirklich genügende moderne literaturwissenschaftliche Darstellung muß Summe
vieler Methoden sein, und M. entwickelt am Fall Jeremias Gotthelfs, über den er
inzwischen eine umfangreiche Monographie veröffentlicht hat5), wie vielfältig die
Fragen sind, deren Beantwortung zum Zustandekommen eines idealen literatur-
geschichtlichen Dichterbildes vorausgesetzt werden muß.

Wenn man das Verhältnis von „Psychologie und Dichtung" untersucht, wie es
C. G. J u n g im nächsten Aufsatz tut, steht man zunächst vor dem grundlegenden
Gegensatz, daß die Psychologie als Wissenschaft letztlich kausal-rational verfahren
muß, während die Probleme der Kunst letzten Endes stets irrational bleiben; denn
das Schöpferische ist das „absolute Gegenteil des bloßen Ablaufs". Ist künstlerisches
Schaffen auch gesteigerter seelischer Ausdruck und das Kunstwerk dessen Nieder-
schlag, so sind Aufgaben und Zielsetzungen wissenschaftlicher Psychologie doch
grundsätzlich andere als das psychologische Erforschen von Kunstwerk und
künstlerischem Schöpfertum. Aber diese beiden Richtungen der Kunstbetrachtung

4) Wie man sieht, findet hier Wilhelm Scherer und seine Schule eine weit un-
günstigere Beurteilung, als wir sie in Franz S c h u 11 z s Aufsatz „Die Entwick-
lung der Literaturwissenschaft von Herder bis Wilhelm Scherer" kennen gelernt
haben.

5) Muschg, Walter: Gotthelf. Die Geheimnisse des Erzählers. München.
Beck 1931.
 
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