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MARGARETE RIEMSCHNEIDER-HOERNER

B. Die nordische Komponente

Wir haben bisher die nordische Komponente als bekannt voraus-
gesetzt, und ich glaube, wir können uns hier auch ganz kurz fassen. Die
Bildfeindlichkeit des nordischen Menschen, der jede Tier- oder Men-
schendarstellung sofort in das Bandgeschlinge seiner Ornamente zwingt,
ist zu bekannt, um breiter darauf einzugehen. Auch die starke Tektonik,
mit der die geometrische Vase in das Chaos eines laxen Kulturuntergangs
schöpferisch gestaltend eingreift und nun mit plötzlicher Wucht jene
strengen Fügungen der Dipylonvasen hinstellt, ist allgemein bekannt.
Wesentlich aber ist es, immer wieder darauf hinzuweisen, wie wenig
Homer in diese geometrische Welt paßt, welche ungeheure Reaktion das
gesamte 7. Jahrhundert der geometrischen Kunst entgegenstemmt, so, als
wäre das altmediterrane Element plötzlich wieder aus einem Märchen-
schlaf erwacht.

Hört aber Griechenland im 7. Jahrhundert auf, nordisch zu sein?
Keineswegs. Homer hat mit den Sumerern, ja selbst den Kretern so
wenig mehr gemein, wie Thorwaldson mit einem germanischen Band-
ornament. Es bilden sich hier gleichsam zwei Synthesen, die phidiasisch-
raphaelische, die die Natur und den Menschen struktiv erschaut, und
die rembrandtische, die die Natur vom Raumerlebnis, vom All her, un-
struktiv als Auflösung in Zeit und Licht wiedergibt. Während aber bei
den Sumerern noch alles zerfließt, schwindet oder sich verdichtet, tritt
in Kreta zum erstenmal und seither in jeder barocken Kunst die Erschei-
nung des Zentralen auf, das Herausschleudern und Wiedereinfangen.
In Kreta freilich lediglich im Ornament, in dem sich am stärksten der
nordische Einfluß bemerkbar machen konnte. Hier haben wir jene Wir-
bel, die ja stets ein Zentrum voraussetzen und die weder nordisch noch
mediterran sind. Wie in der Klassik der Mensch bzw. die Natur tektoni-
siert wird, so wird hier das Zerfließen und Schwinden angesogen und
aufgefangen. Das Ornament behält im Wirbel zwar seine Bewegung,
aber man spürt eine stets mitwirkende Beziehung auf das Zentrum hin.
Diesem Gesetz des Wirbels, des Kreisens aus der Mitte her, folgt der
Bau der homerischen Epen, folgt noch jeder Höllensturz des Rubens, ja
die Färb- und Formführung des „stillsten" Rembrandtbildes. In beiden
Polen haben wir somit als Neues ein Moment der Spannung. Sie ist die
eigentliche Triebfeder des Griechentums, wodurch sich seine Plastik so-
fort von der ursprünglich überlegenen, ägyptischen entfernt. Dem nordi-
schen Orament, das auch in den kompliziertesten Aufwickelungen in sich
zurückläuft, fehlt es; genau so, wie das sumerische Rollsiegel, die sume-
rische Großplastik und auch das Epos spannungslos ist. Vielleicht emp-
findet man es als merkwürdig, daß die Verschmelzung der beiden Aus-
 
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