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Zoepffel, Renate
Historia und Geschichte bei Aristoteles — Heidelberg, 1975

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https://doi.org/10.11588/diglit.41374#0044
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Renate Zoepffel

mittelt haben, und in dieser Faktenvermittlung liegt ihr Wert. Ihre Aitio-
logien bleiben im Bereich ihres jeweiligen einzelnen Gegenstandes, für den
sie die causa efficiens aufsuchen, und wenn sie auch versuchen, Zusammen-
hänge aufzudecken, so stellen sie doch, von Gnomen abgesehen, keine all-
gemeinen Sätze im Sinne des Aristoteles auf, d.h. sie begründen das mensch-
liche Handeln nicht deduktiv aus einem obersten Prinzip101. Und das
können sie ja auch nach dem Wissenschaftsverständnis, das Aristoteles
zugrundelegt, gar nicht tun162.
Die Frage, ob Aristoteles den antiken Historikern, insbesondere Herodot
und Thukydides, mit dieser Einschätzung «gerecht geworden» ist, scheint
mir sehr schwer beantwortbar. Der Historiker muß zwischen den zwei
Aspekten unterscheiden, die jedes historische Ereignis — und dazu gehören
ja auch die Produkte schöpferischer geistiger Tätigkeit — aufweist: einer-
seits die unmittelbare Bedeutung und Wirkung, die das Ereignis in seiner
jeweiligen Gegenwart hat, und andererseits die weiterreichenden Wirkungen
und Bedeutungen, die es im Verlauf der Geschichte erhält. Es ist klar,
daß der zweite Aspekt sich dauernd ändern muß, weil die Betrachter sich
in der Zeit wandeln und jede Generation und jeder Einzelne sich auf ihre
ganz spezifische Weise mit der Vergangenheit auseinandersetzen163. In dieser
Hinsicht ist es nur ein Zeichen für die Lebendigkeit der historischen Über-
lieferung, wenn die Beschäftigung mit ihr an kein endgültiges Ziel gelangt.
Aber wenn Herodot und Thukydides uns viel mehr zu sagen haben als
einem Aristoteles, so ist damit noch nicht ausgemacht, daß dieser für seine
Zeit falsch geurteilt hat. Vielmehr laufen wir Gefahr, ihm nicht «gerecht zu
werden», wenn wir verlangen, daß er mit unseren Augen sieht.
Ob die antiken Historiker selbst den Anspruch erhoben, anderes zu leisten,
als ihnen im aristotelischen System zugewiesen wird, läßt sich schwer ent-
scheiden, wie die immer weniger überschaubar werdende Flut von moderner
Literatur über sie zur Genüge beweist164. Was uns an direkten Absichts-
erklärungen erhalten ist, spricht eher dagegen. Herodot redet in erster Linie
von der Bewahrung der Tradition105, und er sagt uns nicht, weshalb er sie für
bewahrenswert hielt. Thukydides erklärt bekanntlich, daß er zukünftigen

1S1 Sofern man nicht die «menschliche Natur» bei Thukydides als ein solches Prinzip ver-
stehen will.
162 W. Kullmann, Wiss. u. Meth. (A. 56), 222.
ics Vgl. dazu z. B. J. Burckhardt: «Es kann sein, daß im Thukydides z. B. eine Tatsache
ersten Ranges steht, die erst in hundert Jahren jemand bemerken wird.» Weltgeschicht-
liche Betrachtungen, hrsg. v. R. Stadelmann, 44.
104 Für Herodot z. B. braucht nur auf die Übersicht verwiesen zu werden, die J. Cobet
(o. A. 2) bes. 188—198 gibt, für Thukydides auf O. Luschnat, RE Suppl. XII, 1970,
1085-1354, und XIV, 1974, 760—786.
165 Prooimion.
 
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