Historia und Geschichte bei Aristoteles
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Geschlechtern eine Orientierungshilfe für ihr Handeln zur Verfügung stellen
wolle166, und den späteren Autoren geht es, soweit wir sehen können,
hauptsächlich immer wieder um den sowohl praktisch wie moralisch er-
zieherischen Wert ihrer Aufzeichnungen167 — in aristotelischer Terminologie
um die Vermittlung von Erfahrung168.
Daß sich Herodot und Thukydides dessen bewußt waren, daß sie in ihrer
Genialität einen Ausschnitt des menschlichen Lebens selbst in seiner ganzen
Unausschöpfbarkeit und Vieldeutigkeit «für die Ewigkeit» nachgestaltet
haben, läßt sich nicht beweisen. Das Echo, das ihre Werke in der Antike
gefunden haben, spricht nicht gerade dafür, daß die Zeitgenossen und die
antiken Nachkommen davon viel begriffen hätten189. Die uns erhaltenen
antiken Urteile stammen hauptsächlich von Rhetoren wie Dionysios von
Halikarnass, Cicero und Quintilian und lassen ganz andere, überwiegend
stilistisch-aesthetische Interessen deutlich werden.
Über die Oberflächlichkeit dieser Beurteiler aus moderner Sicht den Kopf
zu schütteln, ist leicht, aber wenig hilfreich, wenn es um die Einsicht in die
Eigenart der Antike geht. Ich möchte meinen, daß der Historiker den ersten,
unmittelbaren Aspekt historischer Ereignisse eben nicht vernachlässigen
darf, wenn er über seinen eigenen Horizont hinausgelangen will, und mehr
Gewinn davon hat, wenn er sich eingesteht, daß sein eigenes Werturteil
keinen Absolutheitsanspruch besitzen kann.
168 1,22,4; wozu für ihn auch gehört, daß er eine Massenepidemie exakt schildert — 2,48—53.
107 Z. B. Polyb. 1,1 u. 1,35. Diodor 1,1. Plut. Perikies 1 f. ; Aemilius Paulus 1; Demetrios 1;
Aratos 1.
168 Natürlich spielen daneben auch noch andere Faktoren eine Rolle, wie die Freude am
Berichten außerordentlicher Ereignisse (Thuk. 1,1,1; Polyb. 1,2) oder der Wunsch nach
Ruhm (Herod., Prooim.) oder auch Dankbarkeit (Plut. Kimon 2) und anderes.
18ä Vgl. H. Strasburger, Die Entdeckung der politischen Geschichte durch Thukydides,
Saeculum 5, 1954, 395—428 = Thukydides, Wege der Forschung, Bd. 98, hrsg. v. H.
Herter, 1968, 412—476, 465 ff. — der Kern der geschichtlichen Lehre des Thuk. blieb
den Griechen wesensfremd. S. auch O. Luschnat, RE Suppl. XII: Thukydides der
Historiker, III Die Nachwirkung des Thuk. 1266 ff. Zu Herodot vgl. J. Cobet, o. A. 14.
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Geschlechtern eine Orientierungshilfe für ihr Handeln zur Verfügung stellen
wolle166, und den späteren Autoren geht es, soweit wir sehen können,
hauptsächlich immer wieder um den sowohl praktisch wie moralisch er-
zieherischen Wert ihrer Aufzeichnungen167 — in aristotelischer Terminologie
um die Vermittlung von Erfahrung168.
Daß sich Herodot und Thukydides dessen bewußt waren, daß sie in ihrer
Genialität einen Ausschnitt des menschlichen Lebens selbst in seiner ganzen
Unausschöpfbarkeit und Vieldeutigkeit «für die Ewigkeit» nachgestaltet
haben, läßt sich nicht beweisen. Das Echo, das ihre Werke in der Antike
gefunden haben, spricht nicht gerade dafür, daß die Zeitgenossen und die
antiken Nachkommen davon viel begriffen hätten189. Die uns erhaltenen
antiken Urteile stammen hauptsächlich von Rhetoren wie Dionysios von
Halikarnass, Cicero und Quintilian und lassen ganz andere, überwiegend
stilistisch-aesthetische Interessen deutlich werden.
Über die Oberflächlichkeit dieser Beurteiler aus moderner Sicht den Kopf
zu schütteln, ist leicht, aber wenig hilfreich, wenn es um die Einsicht in die
Eigenart der Antike geht. Ich möchte meinen, daß der Historiker den ersten,
unmittelbaren Aspekt historischer Ereignisse eben nicht vernachlässigen
darf, wenn er über seinen eigenen Horizont hinausgelangen will, und mehr
Gewinn davon hat, wenn er sich eingesteht, daß sein eigenes Werturteil
keinen Absolutheitsanspruch besitzen kann.
168 1,22,4; wozu für ihn auch gehört, daß er eine Massenepidemie exakt schildert — 2,48—53.
107 Z. B. Polyb. 1,1 u. 1,35. Diodor 1,1. Plut. Perikies 1 f. ; Aemilius Paulus 1; Demetrios 1;
Aratos 1.
168 Natürlich spielen daneben auch noch andere Faktoren eine Rolle, wie die Freude am
Berichten außerordentlicher Ereignisse (Thuk. 1,1,1; Polyb. 1,2) oder der Wunsch nach
Ruhm (Herod., Prooim.) oder auch Dankbarkeit (Plut. Kimon 2) und anderes.
18ä Vgl. H. Strasburger, Die Entdeckung der politischen Geschichte durch Thukydides,
Saeculum 5, 1954, 395—428 = Thukydides, Wege der Forschung, Bd. 98, hrsg. v. H.
Herter, 1968, 412—476, 465 ff. — der Kern der geschichtlichen Lehre des Thuk. blieb
den Griechen wesensfremd. S. auch O. Luschnat, RE Suppl. XII: Thukydides der
Historiker, III Die Nachwirkung des Thuk. 1266 ff. Zu Herodot vgl. J. Cobet, o. A. 14.