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II
A Für uns bleibt zu fragen, ob sich irgendein allgemeiner Begriff für das,
was wir als «Geschichte» bezeichnen, im Werk des Aristoteles findet. Aber
da gibt es nichts anderes als die auch sonst üblichen Pluralbildungen, mit
denen die Ereignisse oder Taten der Gegenwart und Vergangenheit benannt
werden: πράξεις oder πράγματα, τα γενόμενα, προγενόμενα oder γεγενημένα1 ‘u.
Sie bleiben alle sehr dicht an der Vorstellung des konkreten Vorganges, und
Aristoteles, der sonst manchmal bemerkt, daß der griechischen Sprache ein
allgemeiner Begriff für etwas fehlt171, empfindet in dem uns interessieren-
den Fall offenbar überhaupt keinen Mangel.
Wer die Überzeugung hegt, daß nur das für einen Menschen und eine
Kultur von Bedeutung sei, wofür sie auch einen Begriff gebildet haben,
könnte sich also mit diesem Ergebnis beruhigen: «Geschichte» hat es für
Aristoteles eben nicht gegeben. Eine solche Schlußfolgerung erscheint mir
jedoch voreilig; denn wenn Aristoteles auch eine eventuelle Ordnung oder
Bedingtheit menschlichen Handelns in seiner zeitlichen Aufeinanderfolge
nicht ausdrücklich zum Gegenstand seiner Reflexionen gemacht hat, so ergibt
sich doch aus vielen seiner ganz fraglos gemachten Feststellungen, daß er
eine bestimmte Vorstellung von der Eigenart menschlichen Daseins und
Handelns hatte, die mit der Weitsicht, die wir die geschichtliche nennen,
durchaus zu vergleichen ist. Und so hat denn die moderne Forschung bisher
auch nicht von dem Versuch abgelassen, das «Geschichtsverständnis» der
Antike allgemein oder bestimmter antiker Autoren, für die ebenso das
Fehlen eines allgemeinen Begriffs charakteristisch ist172, zu ergründen.
Ein Pauschalurteil, das sich zwar weniger bei Althistorikern findet,
dafür aber in der communis opinio moderner Geschichtstheoretiker, Philo-
sophen und auch Klassischer Philologen desto unangefochtener zu sein
scheint173, klassifiziert das antike Geschichtsdenken schlechthin als «zyk-
170 S. H. Bonitz, Index Aristotelicus.
171 Z. B. Poetik 1,1447b 9ff.: όυδέν γάρ αν εχοιμεν όνομάσαι κοινόν τούς Σώφρονος και
Ξενάρχου μίμους καί τούς Σωκρατικούς λόγους. Anal. pr. 1,35,48a 29 f.; Meteor. 1,4,
341b 15 f.; 4,2,379b 15 u. ö.
172 Z. B. Thukydides.
173 Z. B. F. Wagner, Geschichtswissenschaft (1951) 21966, 9, bes. 43 f. K. Lowith, Welt-
geschichte und Heilsgeschehen (1953) 61973, 14; 26: «Es scheint, als ob die beiden
großen Konzeptionen der Antike und des Christentums, zyklische Bewegung und escha-
tologische Ausrichtung, die grundsätzlichen Möglichkeiten des Geschichtsverständnisses
erschöpft hätten.» A. Stern, Geschichtsphilosophie und Wertproblem, München/Basel
1967, 51 ff. Vgl. aber auch H. Meyer, Zur Lehre von der ewigen Wiederkunft aller
Dinge, in: Beiträge zur Geschichte des christlichen Altertums und der Byzantinischen
II
A Für uns bleibt zu fragen, ob sich irgendein allgemeiner Begriff für das,
was wir als «Geschichte» bezeichnen, im Werk des Aristoteles findet. Aber
da gibt es nichts anderes als die auch sonst üblichen Pluralbildungen, mit
denen die Ereignisse oder Taten der Gegenwart und Vergangenheit benannt
werden: πράξεις oder πράγματα, τα γενόμενα, προγενόμενα oder γεγενημένα1 ‘u.
Sie bleiben alle sehr dicht an der Vorstellung des konkreten Vorganges, und
Aristoteles, der sonst manchmal bemerkt, daß der griechischen Sprache ein
allgemeiner Begriff für etwas fehlt171, empfindet in dem uns interessieren-
den Fall offenbar überhaupt keinen Mangel.
Wer die Überzeugung hegt, daß nur das für einen Menschen und eine
Kultur von Bedeutung sei, wofür sie auch einen Begriff gebildet haben,
könnte sich also mit diesem Ergebnis beruhigen: «Geschichte» hat es für
Aristoteles eben nicht gegeben. Eine solche Schlußfolgerung erscheint mir
jedoch voreilig; denn wenn Aristoteles auch eine eventuelle Ordnung oder
Bedingtheit menschlichen Handelns in seiner zeitlichen Aufeinanderfolge
nicht ausdrücklich zum Gegenstand seiner Reflexionen gemacht hat, so ergibt
sich doch aus vielen seiner ganz fraglos gemachten Feststellungen, daß er
eine bestimmte Vorstellung von der Eigenart menschlichen Daseins und
Handelns hatte, die mit der Weitsicht, die wir die geschichtliche nennen,
durchaus zu vergleichen ist. Und so hat denn die moderne Forschung bisher
auch nicht von dem Versuch abgelassen, das «Geschichtsverständnis» der
Antike allgemein oder bestimmter antiker Autoren, für die ebenso das
Fehlen eines allgemeinen Begriffs charakteristisch ist172, zu ergründen.
Ein Pauschalurteil, das sich zwar weniger bei Althistorikern findet,
dafür aber in der communis opinio moderner Geschichtstheoretiker, Philo-
sophen und auch Klassischer Philologen desto unangefochtener zu sein
scheint173, klassifiziert das antike Geschichtsdenken schlechthin als «zyk-
170 S. H. Bonitz, Index Aristotelicus.
171 Z. B. Poetik 1,1447b 9ff.: όυδέν γάρ αν εχοιμεν όνομάσαι κοινόν τούς Σώφρονος και
Ξενάρχου μίμους καί τούς Σωκρατικούς λόγους. Anal. pr. 1,35,48a 29 f.; Meteor. 1,4,
341b 15 f.; 4,2,379b 15 u. ö.
172 Z. B. Thukydides.
173 Z. B. F. Wagner, Geschichtswissenschaft (1951) 21966, 9, bes. 43 f. K. Lowith, Welt-
geschichte und Heilsgeschehen (1953) 61973, 14; 26: «Es scheint, als ob die beiden
großen Konzeptionen der Antike und des Christentums, zyklische Bewegung und escha-
tologische Ausrichtung, die grundsätzlichen Möglichkeiten des Geschichtsverständnisses
erschöpft hätten.» A. Stern, Geschichtsphilosophie und Wertproblem, München/Basel
1967, 51 ff. Vgl. aber auch H. Meyer, Zur Lehre von der ewigen Wiederkunft aller
Dinge, in: Beiträge zur Geschichte des christlichen Altertums und der Byzantinischen