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WILLIAM BLAKE UND EDWARD CALVERL

William Blake ist eine von jenen seltsamen, isolirten Erscheinungen, die von Zeit zu Zeit den
grossen Strom der Kunstgeschichte hemmen. Die Ungewöhnlichkeit seiner Gaben hätte ihn in
jedem Zeitalter beachtenswert gemacht; aber es war sein Glück, dass er zu einer Zeit geboren
wurde, welche in Gepflogenheiten, Zielen und Stimmungen so weit als möglich von seinen
eigenen natürlichen Neigungen entfernt war. Die Triebfeder seines Lebens war Phantasie; dies
war die Fähigkeit, welche er in den Werken anderer am meisten verehrte, welche er am
glühendsten in sich selbst hegte. Als ein Kind hatte er bei hellichtem Tage Gesichte. Achtzehn
Jahre alt, sah er auf den Feldern, auf denen sich jetzt eine elende Vorstadt Londons erhebt, einen
Baum voll Engel; und ein anderes Mal erschienen ihm himmlische Wesen, unter den Mähdern
wandelnd. Als alter Mann bekannte er: »Die Dinge der Natur schwächten, hemmten und
vernichteten stets die Phantasie in mir und thun es noch.« Die Vernunft setzte er demgemäss
auch herab. Kindlich, enthusiastisch, visionär, — so geartet war die Natur, welche ein ironisches
Schicksal 1757 geboren werden Hess, als eine Periode der Prosa und Vernunft ihren Gipfel
erreicht hatte. Kein Wunder, dass Blake als Rebell aufwuchs und es sein Leben lang blieb.
Rebellion, gerade für die meisten Titanenthum, bedeutet Mangel an Kraft; und obgleich Blake
seine Energie nicht in fortwährenden Kämpfen vergeudete, indem er seinen eigenen Weg mit
unwandelbarem Glauben verfolgte, fühlen wir doch in seinen Werken den Schaden, welchen der
Wunsch, an der eigenen Zeit Antheil zu nehmen, stiftet. Überdies hatte er allzu wenig Gelegenheit,
von der Vergangenheit das zu erhalten, was ihm seine eigene Zeit nicht geben konnte. Es gab
im achtzehnten Jahrhundert keine National-Gallerie in England. Männer wie Reynolds und
Gainsborough konnten für diese in den Sammlungen ihrer reichen und vornehmen Gönner einen
Ersatz finden. Aber Blake hatte weder die Lust noch die Eignung, Porträte zu malen, deshalb hatte
er keine solchen Gönner. Alles, was er thun konnte, war, den Versteigerungen in öffentlichen
Auctionslocalen anzuwohnen; und alles, was er von Raphael oder Michelangelo kannte, war aus
den schwächsten und ungenauesten Stichen gewonnen, während sich sein Abscheu vor der
Venezianischen Schule theilweise rechtfertigen lässt, wenn wir uns der zahllosen erbärmlichen
Copien und herabgekommenen Erzeugnisse jener Schule erinnern, welche alle Sammlungen über-
schwemmen.

Blake wuchs also in fremder Umgebung auf und genoss wenig oder besser: gar keine
Erziehung; er reiste niemals und aller Wahrscheinlichkeit nach sah er niemals eines von den
Meisterwerken der idealen Maler, welche für seine Kunst die natürlichen Vorbilder gewesen
wären. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass seine eigenen visionären Triebe, sein fehlendes
Interesse an der Natur noch überdies seine Mängel an schulgerechter Bildung erhöhten. Die
grösste Schwierigkeit für alle, welche ein Ideal ihrer Phantasie mittels der menschlichen Gestalt
 
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