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Grosjean, Georges [Hrsg.]; Cavelti, Madlena [Hrsg.]
500 Jahre Schweizer Landkarten — Zürich, 1971

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https://doi.org/10.11588/diglit.10984#0057

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gegenüber den frühem, von Auge gezeichneten Kurven härter und
prägnanter. Das freie künstlerische Schaffen, obgleich noch vor-
handen, tritt gegenüber dem technisch Normierten und eindeutig
Festgelegten in den Hintergrund. Die klassischen Schriften, Antiqua
und Kursiv, sind auch für die neuen topographischen Landeskarten
beibehalten worden. Sic fügen sich nach wie vor am harmonischsten
in ein bewegtes Kartenbild ein. Für die geographischen Karten der
kleinen Maßstäbe, die zurzeit in ihrer definitiven Bearbeitung eben-
falls zu erscheinen beginnen, eignen sich moderne Schriften besser.
Das Blatt Matterhorn 1969 zeigt nicht mehr die unberührte Alpcn-
welt von einst. Es ist bereits Ausdruck einer technisierten Alpcnland-
schaft. Die vielen gestrichelten blauen Linien geben die durch die
Berge führenden Wasscrzulcitungsstollen der alpinen Kraftwerke an
- in der ganzen Schweiz sind es um 1000 km, das Dreifache der
Strecke Genfcrsec-Bodensec... Auf der Südseite von Breuil zeigen
schwarz gezeichnete Seilbahnen und braune Skiliftc die intensive
Erschließung für den modernen Massentourismus. Auf Zermatter
Seite wären entsprechende Anlagen auf dem Anschlußblatt rechts
zu finden.

Dasselbe Motiv des technischen Kulturlandschaftswandels ist uns
schon vom Barock an immer wieder bei der Betrachtung von Karten
begegnet. Es mag, abschweifend vom Matterhorn wieder hinunter
ins Mittelland, an einer Serie von Kartenausschnitten von Ölten
und seiner Umgebung noch einmal eindrücklich werden: Drei
Ausschnitte entstammen dem Sicgfricdblatt 149, Ausgaben 1884,
1914 und 1940, der letzte Ausschnitt der Landeskarte Blatt 1088,
Ausgabe 1964. Man erkennt den ersten großen Sprung der Indu-
strialisierung zwischen 1880 und 1914, wo der Erste Weltkrieg und
die spätere Wirtschaftskrise vorläufig Einhalt geboten, und dann den
zweiten Sprung vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Gegen-
wart. Zurzeit erreicht die jährlich in der Schweiz durch Straßen,
Bahnanlagen, Hochbauten und technische Anlagen neu beanspruchte
Fläche die Größenordnung von 40 km2. Karten führen diesen Vor-
gang vor Augen. Sie zeigen, daß es nichts Bleibendes, Beharrendes
gibt, sondern nur Wandel, Untergang, Ende und Neubeginn. So
auch in der Kartographie selbst. Unsere heutigen Landeskarten stellen
den absoluten Höhepunkt einer Entwicklung dar, von dem es wahr-
scheinlich auf lange Sicht künstlerisch nur noch Abstieg geben wird.
Neue Zeiten stellen neue Anforderungen. Die Notwendigkeit immer
rascherer Nachführung und der Massenverbrauch von Karten für
alle Zwecke werden wohl auf die Dauer zu qualitativer Verschlech-
terung führen. Luftfahrt und Einsatz von Luftlandeverbänden führen
im Ausland bereits zu Karten, auf denen bestimmte Niveaus mit
knalligen Farben angelegt sind, damit man in Sekundenschnelle die
Hauptsache erkennen kann. Der motorisierte Tourismus und der
militärische Einsatz mechanisierter Verbände verlangen Karten, auf
denen Straßen, auch Brücken und Hindernisse möglichst auffällig
angegeben sind. Unsere Landeskarten 1:100000 mit ihren in Orange
und Gelb angelegten Hauptstraßen weisen jetzt schon in diese Rich-
tung. Die Harmonie der einzelnen Kartenelemente wird aber dadurch
bereits beeinträchtigt. Schon zeichnet sich die Speicherung geodäti-
scher und topographischer Inhalte auf Lochstreifen und Magnet-
bändern und deren maschinelle Reproduktion ab. Vielleicht wird
die Zeit kommen, da auch in der Kartographie die Schönheit und
freies menschliches Schaffen der Technik endgültig weichen müssen.
Vielleicht wird eine neue technische Schönheit gefunden. Vielleicht
auch führt ein größer werdendes Bedürfnis des Menschen nach Er-
holung in der Natur, nach Wandern und Bergsteigen zu einer Fort-
setzung der bisherigen Kartentradition. Immer aber werden unsere
heutigen Landeskarten als Denkmäler einer großen Zeit, vollaus-
gereifte Frucht einer fünf hundertjährigen Entwicklung, in die Kar-
tengeschichte hineinragen.

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