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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,4.1910

DOI Heft:
Heft 24 (2. Septemberheft1910)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Vorkämpfer-Werke und Begleiterwerke
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https://doi.org/10.11588/diglit.9020#0421
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^Iahrg.23 Zweites SeptemberheftlSIO Heft24^

Vorkämpfer-Werke und Begleiterwerke

lle Lntwicklung einer Kunst schreitet von Vorkämpferwerk zu
I Vorkämpferwerk. Zu einem Vorkämpferwerk wird ein Werk durch
-^v-'das Neue, sei es einer Aufgabe, eines „Problems", sei es eines
„Fragens der Zeit", sei es einer eigenartigen Persönlichkeit als
solcher, kurz: durch irgendein Etwas, das den bisherigen Kulturbesitz
nach irgendeiner Richtung hin bereichert. Ist es wirklich ein Vor-
kämpferwerk oder scheint es nur eins? Bereichert es wirklich und
mit Werten, die wesentlich sind? Sofort fragen das die Alten, und
sofort beginnt also der Streit. „Nein!" „Doch!" Aber immer mit
der stillen Voraussetzung: wenn es ein Vorkämpferwerk ist, dann,
allerdings, gebührt ihm selbst in den Feuilletons der Tagesblätter der
breiteste Raum. Entschieden wird die Frage nicht durch Debatten,
sondern durch die Lebens- und Zeugungsfähigkeit des Neuen inncrhalb
der Gesamtkultur. Daß sich fast alle Kunstgeschichte um einstige Vor-
kämpferwerke dreht, mag alsv in der Ordnung sein. Ist es aber auch
in der Ordnung, wenn sich die Kunstbesprechung in den Zeitschriften
und Zeitungen, soweit sie ernst genommen sein will, gleichfalls fast aus-
schließlich um Vorkämpferwerke dreht? Ich bin der Meinung: das
ist nicht gut. Nnd stehe so wieder einmal weder bei den Alten
n o ch bei den Iungen ohne Vorbehalt.

Was den Vorkämpferwerken unbedingt gewonnen werden muß,
das ist der ResPekt, der ihren Bildnern die Lebensmöglichkeit und
die Schaffensfreude beläßt. Nnd zwar sowohl den starken Vor-
kämpferwerken, wie, bis der Streit geklärt ist, den ehrlichen Ver-
suchen, über deren Gelingen man noch nichts sagen kann. Da ist auch
manches besser, da sind wir vorsichtiger geworden; der dumme, brutale,
kulturgefährliche Hohn, mit dem die zahlungsfähige Asthetik des
Philistertums vor dreißig, vor zwanzig Iahren alles Ungewohnte
abzutun glaubte, hat einer größern Vorsicht Platz gemacht,- es ist jetzt
in weitern Kreisen, denn ehedem, als ein Zeichen von Bildung aner-
kannt, in Kunstsachen mit Schimpf und Hohn zurückzuhalten. Kann
der Kritikus vor dem Ungewohnten nicht nur zum freundlichen Ab-
warten, kann er darüber hinaus zum Erfassen oder gar zum Nach-
erleben der neuen Werte führen, um so besser. Dann wirke er für
das Erfassen des Neuen auch durch die andern. Aber die Aufgaben
der öffentlichen Kunstbesprechungen dem Publikum gegenüber sind
damit nicht erschöpft. Mehr: wenn wir weiter nichts betreiben,
als die Besprechung der Neuwerke und Neuwerte, so bleiben wir
nicht nur Wichtiges schuldig, nein, dann werden selbst positive kritische
Gaben für die Allgemeinheit oft weniger als zweifelhaft an Wert.

Wir bleiben unsern Lesern Wichtiges schuldig. Alle Neuwerke
sind Landzungen und Eindeichungsdämme in die See, aber auch
nicht mehr — was würde man zu Leuten sagen, die solcher Er°
oberungsbauten wegen das große Altbesessene versanden und ver-
sumpfen ließen? Wir müssen dafür sorgen, daß wir die erworbenen

2. Septemberheft WO
 
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