Editionskonzept

Die erste autorgebundene deutsche Fabelsammlung wurde letztmalig auf dem Methodenstand von 1844 anhand von 17 Textzeugen so ediert, wie sie sich in keinem der heute 38 bekannten darbietet. Hauptziel der digitalen Neuedition des Edelstein ist es daher, die ,Echtheit‘ und Realität seiner inhomogenen autornahen Überlieferung sowie der beiden aus ihr hervorgewachsenen Wirkformen vor die dubiose eines editorisch unerreichbaren Originals zu stellen. Des Weiteren ist angestrebt, das digitaleditorische Instrumentarium auf Basis der Heidelberger Editionsinfrastruktur heiEDITIONS und ihrer Tools auszubauen und sowohl in der Datenmodellierung als auch hinsichtlich innovativer Visualisierungsmöglichkeiten so zu optimieren, dass sie auch für andere Editionsvorhaben fungibel werden kann. Ein Schwerpunkt soll dabei auf dem textkritischen Variantenapparat liegen; weitere Innovationen sind bezüglich einer größeren Flexibilisierung der synoptischen Darstellung vorgesehen.

Auch wenn digital zu edieren nicht bedeutet, eine herkömmlich erstellte Ausgabe über einem digitalisierten Material-Fundus zu errichten, bedarf es im Vorfeld doch aufwändiger recensio, examinatio und Stemmatik. Denn diese philologischen Schritte sind im digitalen Modus keinesfalls durch die technische Möglichkeit dispensiert oder gar obsolet geworden, die Gesamtheit der überlieferten Datenflut digital abbilden zu können. Vielmehr bleibt gerade hier das iudicium des Editors gefordert, das komplett digitalfaksimilert unterbreitete Material auf jene editionsrelevanten Textzeugen hin zu durchdringen und zu selegieren, die die historisch wirksamsten Textstufen exemplarisch leithandschriftlich repräsentieren und miteinander vergleichen lassen. Da die Stemmatologie dabei gerade jene Edelstein-Handschriften als textlich, sprachlich und zeitlich autor- und archetypnächste in Erfahrung gebracht hat, die mittlerweile zerstört, verschollen oder stark fragmentiert sind, müssen alle vier noch erhaltenen der ältesten Textstufe als Leithandschriften beigezogen werden, um den autorintendierten Sammlungsumfang von hundert Texten nebst Pro- und Epilog überhaupt zusammenzubringen. Dagegen genügt es, die beiden autorferneren, in Text- und Versbestand reduzierten und sprachlich-stilistisch ,schlichteren‘ Wirkformen der Sammlung, die immerhin 85 Prozent der Gesamtüberlieferung ausmachen, durch je zwei exemplarische Textzeugen zu repräsentieren, die als Bezugstexte und Vergleichsbasis fungieren können.

Nur diese acht Überlieferungsträger (neben Einzelnachträgen, die aus Zeugen der ältesten Textstufe in zwei der jüngeren Wirkformen fanden) werden nach den Regularien der Text Encoding Initiative (TEI) transkribiert und in endgültig korrigierter Form zur digitalen Datenbasis aller weiteren Editionsschritte. Durch ‚tokenisierte‘ Texterfassung und Erweiterungen des Oxygen XML Editor sind die Transkripte mittels fortentwickelter Tools so aufzubereiten, dass die Operationen zur Erstellung des Leittexts (Emendation, Normalisierung, Interpunktion, apparatrelevante Varianz-Erfassung) wie des Apparats (anhand gesetzter Markups und durch Verweise auf Paralleltext-Varianten) weitgehend automatisiert und ohne weiteren Korrekturaufwand aus einer schichtenweise aufgebauten Datenhaltung und durch netzwerkartige Verknüpfungen in die Leithandschriften-Edition und den sie begründenden textkritischen Apparat einfließen können.

Die Darbietung des archetypnahen Autortexts ist in drei Formaten und Anzeigemodi geplant:

  1. nach der jeweiligen Leithandschrift des Einzeltextes TEI-konform transkribiert;
  2. in korrigierter, graphematisch zurückhaltend normalisierter und interpungierter Form sowie mit textkritischem Variantenapparat versehen ediert;
  3. zu Unterrichtszwecken, digitaler Durchsuchbarkeit, Lemmatisierung und Wörterbuch-Anbindung graphisch und lautlich forciert normalisiert.

Die beiden aus der jüngeren Überlieferung hervorgegangenen Wirkformen des Edelstein werden nach je zwei repräsentativen Leitzeugen (darunter der Druck von 1461 als wohl verbreitetste textgeschichtliche ,Endstufe‘) in TEI-Transkripten präsentiert. All diese Darbietungsformate der editionsrelevanten Textzeugen können zu Vergleichszwecken versparallel synoptisch visualisiert werden. Des Weiteren besteht die Option, der Spaltenansicht die Digitalfaksimiles sämtlicher Überlieferungszeugen (bzw. die älterer Teil-Abschriften oder -Abdrucke verlorener) synoptisch zuzuschalten, d. h. sowohl die acht transkribierten mit ihren Originalen wie mit denen der dreißig nicht transkribierten zu Vergleichen nebeneinanderzustellen.

Die skizzierten Visualisierungsmodi dokumentieren und erschließen die Edelstein-Überlieferung nicht nur textphilologisch, sie lassen die Spannweite ihrer individuellen Erscheinungsformen auch in der jeweiligen Gebrauchszurichtung sowie in kodikologisch-materialer Hinsicht überblicken. Und nicht zuletzt regen sie an, die mit fast 1.350 Illustrationen in solcher Fülle für kaum ein zweites mhd. Werk erhaltene Bildüberlieferung kunsthistorisch-komparatistisch aufzuschließen.

Seine besondere Eignung zu akademischer Lehre teilt der Edelstein mit seiner Gattungsdominante, stellt die äsopische Fabel doch eine von babylonischer Zeit bis in den mittelalterlichen und heutigen Schulunterricht viertausendjährige Funktions- und Gebrauchskonstante dar. Das lässt eine Printausgabe des ‘forciert normalisierten‘ Editionsformats in Erwägung ziehen, die im Open-Access-Verlag Heidelberg University Publishing (heiUP) ,unter einem Dach‘ mit der digitalen angestrebt wird.