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Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 19.1903

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Heft 2

1Q03

ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU


Studie nach einer
Sumpfdistel.

Architekt: H. Kirchmayr
in Innsbruck.

Ersetzt man aber
unsre vornehmen und
künstlerisch ausgereif-
ten Ornamente der
überlieferten Stilarten
durch die möglichst
naturgetreue Wieder-
gabe scheusslicher
Aztekenfratzen oder
ethnographisch zwei-
fellos höchst inter-
essanter, aber des-
wegen doch noch
lange nicht unser
Kunstempfinden be-
friedigender, durch Un-
beholfenheit der Er-
findung und Roheit in
der Ausführung ab-
stossender Schöpfun-
gen der Südseeinsula-
ner u. dergl., so stellt

Flechtwerk in einer
unserm Schönheits-
empfinden entspre-
chenden Form wieder-
gegeben und mit reiz-
vollen naturalistischen
Bildungen, Blättern,
Blüten und Trauben
anmutig durchsetzt
und mit der ganzen
technischen Vollen-
dung ausgeführt, auf
die unsre Kunsthand-
werker der Gegenwart
mit Recht stolz sind.
Damit sind wir
bei der grossen und er-
freulicherweise immer
kräftiger anwachsen-
den Gruppe von Künst-
lern angelangt, die ihre
Ornamente ganz un-

Flachornament. Architekt: H. Kirchmayr
(Syringenknospe in Verbindung in Innsbruck.
mit Insektenformen.)


man unsrer Zeit doch nur ein wenig schmeichelhaftes Ge-
schmackszeugnis aus, ganz abgesehen davon, dass die Ver-
treter der sensationslüsternen Modekunst sich nicht scheuen,
diese Entlehnungen als ihre eigene, von allen Gebrechen der
überlebten Kultur befreite neue Kunst auszugeben.
Unzweifelhaft ist ja selbst an den einfachsten Werken
aus grauester Vorzeit für die Kunst aller Zeiten und aller auf
der höchsten Stufe der Entwickelung stehenden Völker sehr viel
zu lernen. Aber es muss auch hier eine geistige Verarbeitung
stattfinden; das blosse Nachbilden zum Zwecke augenblicklicher
Effekthascherei ist mindestens ebenso unfruchtbar, wie die
schülerhaft unselbständige Wiederholung klassischer Gebilde.
Mehr als aus allgemeinen ethnologischen Exkursionen nach
der Südsee und dem Stu¬
dium der mehr oder weniger
allen Naturvölkern auf der
untersten Stufe der Entwicke¬
lung gemeinsamen künstle¬
rischen Urformen dürfte u.E.
für unsre Kunst, besonders
für eine eigenartige nationale
Kunst zu gewinnen sein,
wenn man, mit der nötigen
kritischen Selbständigkeit an
die uralten Ueberlieferungen
unsrer Rasse und unsrer
Einzelstämme anknüpfend,
deren Leitmotive, soweit sie
für unsre Zeit brauchbar er¬
scheinen, verarbeiten und
nicht bloss in altertümeln-
derWeise nachbilden könnte.
Wir haben bereits mehrfach
ornamentale Schöpfungen
Prof. Karl Floffackers abge¬
bildet, in denen diese freie
Benutzung unsrer nordisch¬
germanischen Ueberliefe-
rung unverkennbar mit
grossem Geschick durchge¬
führt ist. Vollkommen frei
von dem zum Teil geradezu
abstossenden Eindruck der
alten Arbeiten sind hier die
wundersamen Drachen der
alten Volkssage und das
durch seine kunstvollen Ver¬
schlingungen die Phantasie
des Beschauers immer von
neuem fesselnde Band- und

bekümmert um theoretische Erörterungen über die notwendige
Bildung neuer, noch nie dagewesener Formen aus der reichen
Fülle der uns umgebenden Natur schöpfen. Indem sie die Natur-
formen, Pflanzen, Tiere, Muscheln und Krystalle mit echtem
Künstlerauge sehen und an der richtigen Stelle verwenden, geben
sie dem Ornament, beziehungsweise der Schmuckform der
Geräte den geistigen Inhalt, der unsre Phantasie auf die Dauer
beschäftigen und uns die Geräte wirklich vertraut machen kann.
Lehnen sie sich auch darin an die alte gute Ueberlieferung
an, — denn das Studium beziehungsweise die freudige Wieder-
gabe der Naturformen ist ja der gotischen Schule etwas ganz
Selbstverständliches —, so schaffen sie doch, freilich ohne
das grosse Aufheben, das die Linienkünstler von ihren Neu-
schöpfungen machen, durch-
aus neue Formen, denn das
selbständige künstlerische
Erfassen und Gestalten er-
zeugt nicht nur zu ver-
schiedenen Zeiten, sondern
auch je nach der Art des
gestaltenden Künstlers neue,
den Geist der Zeit und des
Urhebers atmende Gebilde.
Gerade so gut sind aber
auch die frei behandelten
Anlehnungen an die Stil-
formen früherer Zeiten, z. B.
in den Kapitälen von Kayser
& vonGroszheim u.a., durch-
aus Schöpfungen unsrer
Zeit und tragen unverkenn-
bar deren Gepräge. So
dürfen wir hier wohl mit
Recht auf eine deutschnatio-
nale Entwickelung unsrer
Kunst hoffen, gleichwie die
Volks- und Rasseeigentüm-
lichkeiten in vergangenen
Zeiten die grossen Unter-
schiede in der Behandlung
naturalistischer Schmuck-
formen begründet haben.
Echt deutsch sind z. B.
die Pflanzenornamente von
Kirchmayr, von denen wir
einige prächtige Beispiele
hier vorführen. Durchaus
deutsch ist endlich die
sinnige Art, mit der neuer-
dings wieder Zweck und

Flächenmuster.


Paul Bürck in Darmstadt.


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