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Architektonische Rundschau: Skizzenblätter aus allen Gebieten der Baukunst — 19.1903

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https://doi.org/10.11588/diglit.43187#0058
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1903

ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU

Heft 4


Gasthof zum Schiff (am See) in Murten, Schweiz.

Aufgenommen von Professor Carl Zaar in Berlin.

etwa

dass
noch
sein

Ecke eines Hauses
in Wilster.

einer Hauptstrasse einer aufblühenden
holsteinischen Stadt steht mitten unter
mehrstöckigen grossstädtischen und
grossstädtisch aussehen sollenden moder-
nen Wohn- und Ladenbauten, wie sie
jede Stadt hat, ein einfaches strohge-
decktes ehemaliges Bauernhaus.
Nicht allein der Gegensatz zur Um-
gebung zieht unser Auge just auf dieses
anspruchslose Haus; es gefällt uns, ge-
fällt uns jedenfalls mehr als seine an¬
spruchsvollen, verzierten (und verunzierten) Nachbarn. Warum?
Ja, warum eigentlich?
Fesselt uns seine Romantik? Ist’s etwa ein ehrwürdig alters-
graues Sachsenhaus aus der Zeit der Wendenkämpfe? Bewahre,
es ist ersichtlich kaum hundert Jahre alt. Bietet es architek-
tonische Besonderheiten oder Schönheiten? Durchaus nicht,
es ist ein ganz simples holsteinisches Bauernhaus gewöhn-
lichster Art, mit doppelt bretterverschaltem, grossem Giebelfeld,

Volkstümliche Kunst in Schleswig-Holstein.
Von O. Schwindrazheim.

uns nicht erklären können, obschon auch sie nicht romantisch,
nicht malerisch, nicht »stilvoll« sind. Die bescheiden verzierte
Thür im Zopfstil allein kann’s nicht ausmachen, ebensowenig
wie etwa die sofort als falsch erkennbare Vermutung,
unter der auch hier vorhandenen grauweissen Tünche
allerlei Schönes, etwa lustige Ziegelmuster versteckt
könnten.
Was kann es denn aber sonst sein ? Gefällt mir
das Haus, weil auch ich ein Niedersachse bin? Das könnte
die Sache für meine Person erklären, aber andre, geborene
Süddeutsche, haben den gleichen Reiz empfunden.
Das simple holsteinische Bauernhaus, wie die bescheidenen
holsteinischen Bürgerhäuser, obschon diese weit schwächer,
sind eben nicht, wie ihre grossstädtischen modernen Nach-
barn kalte Ausführungen gleichgültiger architektonischer Werk-
zeichnungen; sie enthalten einen Gemütswert: sie sind bei
aller Bescheidenheit Denkmäler eines bestimmten Volkstums,
Bauten einer Rasse von bestimmter Eigenart während man
von ihren Nachbarn sagen könnte, sie seien Bauten einer


Grotdör u. s. w. Bestrickt uns irgendwelcher malerische Reiz?
Auch nicht; es ist leider von oben bis unten mit demselben
greulichen (in des Worts verwegenster Bedeutung) Grauweiss
angestrichen wie die modernen Grossstadtableger, seine Nach-
barn. Uns lockt auch kein Gedanke wie der: darin muss be-
haglich wohnen sein; es sieht nicht wohnlicher aus als das
Parterre eines Nachbarhauses und entbehrt ersichtlich allerlei
moderner Bequemlichkeiten.
Was ist es also, was unser Auge erfreut? Auch jene be-
scheidenen, noch halbländlich dreinschauenden älteren ein-
stöckigen Bürgerhäuser da drüben aus dem Anfang des 19. Jahr-
hunderts haben etwas von diesem geheimen Reiz an sich, den wir

Fig. 1. Niedersächsisches Haus in Stormarn.


Rasse von bestimmt keiner Eigenart: Talmi, Pseudotum von
A bis Z, hier Pseudogriechentum, da Pseudogotik, hier Pseudo-
grossstadttum, da Pseudosandstein u. s. f.

Es ist ganz auf-
fällig, wie unsre
heutige Kunstfor-
schung sozusagen
»heruntergestie-
gen« ist: statt der
Paläste und Dome
rückt das bäuerliche
und kleinstädtische
Haus ersichtlich
mehr und mehr in
den Vordergrund
des Interesses; ge-
wiss sowohl des-
halb, weil an Pa-
lästen und Domen
nicht mehr so viel
Unerforschtes ist,
als auch, weil man
eingesehen hat, dass
man durch das fort-

Fig. 2. Altes unbemaltes Haus aus der Krempermarsch.


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