1903
ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU
Heft 11
Berliner Kunstausstellung 1903.
Mittelportal im blauen Saal.
Architekt: Alfred J. Balcke
in Berlin.
Karl Moritz führt 2 grosse Zeichnungen des Kölner und Dortmunder
Stadttheaters vor, Bruno Möhring die Architektur der Strassenbrücke
über das Syrathal in Plauen i. V.
Breslauer & Salinger haben das sehr gut ausgeführte Modell und
Zeichnungen des Seemannshauses in Wilhelmshaven ausgestellt, Albert
Gessner die Skizze zu einem Sanatorium, Brantzky einen stimmungs-
vollen Entwurf zu einem Grabmal (Radierung), Erdmann & Spindler,
Spalding & Grenander, Alfr. Gessner, Bodo Ebhardt und
A. Lange Entwürfe zu Landhäusern, William Müller seinen (bereits
in Heft 6, Jahrgang 1902 der Rundschau abgebildeten) Entwurf zum Ham-
burger Bismarck-Denkmal, Kurt Diestel den ebenfalls preisgekrönten Ent-
wurf für eine Bismarck-Säule für Chemnitz und Frhr. v. Tettau den Ent-
wurf einer Grabkapelle. Gustav Halmhuber hat 6 Entwürfe für Innen-
dekoration geschickt u. s. w.
Eine reiche Sammlung von Entwürfen aller Art des verstorbenen Ale-
xander Linnemann in Frankfurt a. M., welche die Bedeutung und Viel-
seitigkeit seines Schaffens veranschaulichen, bildet eine besondere Gruppe.
Hier sehen wir auch den imposanten Entwurf des verewigten Meisters für
den dreitürmigen Ausbau der Westfront des Meissner Doms. Mag dieser
dem Charakter der Baugruppe vielleicht am besten entsprechen, für die
Ausführung derartiger Ergänzungsbauten wird die Begeisterung immer mehr
schwinden, je allgemeiner und ernster man sich der neuen Aufgaben
unsrer Zeit bewusst wird, zu deren monumentaler Durchführung jetzt
leider meist keine ausreichenden Mittel vorhanden sind.
An die linke Reihe der Seitenräume schliesst sich eine weitere Gruppe
kunstgewerblicher Schöpfungen an, unter denen Wilhelm Kimbels »Ver-
such zur Ausgestaltung einer besseren bürgerlichen Mietwohnung« (aus-
geführt von Kim bei & Friederich sen), der Empfangs-, Wohn-, Ess- und
Schlafzimmer umfasst, nicht nur in Bezug auf den Umfang, sondern vor
allem durch vornehme Sicherheit in der Wahl der Mittel und prächtige
Ausführung der Arbeiten an erster Stelle steht. Dies wird um so augen-
fälliger durch die unmittelbare Nachbarschaft des Empfangsraumes von
A. Biberfeld mit den gesuchten Formen und Farben, besonders aber
mit dem überaus plumpen Metallwerk am Kamin und den durch nichts
motivierten schweren eisernen Gehängen, die im Oval unter der Decke
herumhängen, um winzige Glühlampen zu tragen. Wie die festliche und
trauliche Beleuchtung eines Wohn- oder Speisezimmers durch eine grosse
Anzahl einzelner Glühlampen wirkungsvoll zu gestalten ist, ist in den
Ki mb el sehen Räumen überzeugend vorgeführt.
Eine treffliche Leistung — einfache Formen, helle freundliche Farben
und gute Arbeit — ist auch das von Architekt Georg Honold entworfene,
von Kunsttischler C. Luckat ausgeführte Schlafzimmer mit Möbeln aus
Zitronenholz mit Ornamenten in Altgold, von denen wir hier zwei Auf-
nahmen wiedergeben.
Nimmt man das Biberfeldsche Empfangszimmer und das Musikzimmer
von Schaudt aus, so haben wir diesmal lauter Räume, in denen man gut
und behaglich wohnen könnte, die den ernsthaften Wunsch, sie selbst zu be-
sitzen, anregen. Dass von einem Teile des Publikums die zarten Farben und
die hellen Hölzer des besonders ansprechenden Kimbelschen Speisezimmers
und des Honoldschen Schlafzimmers als »so unpraktisch bezeichnet werden,
lässt nur erkennen, wie viel die sogenannten gebildeten Kreise in Bezug
auf Wohnungshaltung noch zu lernen haben, bis sie auch nur annähernd
als reif für ein eigenes, künstlerisch eingerichtetes Wohnhaus gelten können.
So bietet die Ausstellung der Architektur und des Kunstgewerbes dies-
mal eine Fülle guter und hervorragender Arbeiten und Entwürfe. Sie zeigt
— sehr im Gegensatz zu Malerei und Plastik — ein kräftiges und ziel-
bewusstes Fortschreiten auf der ganzen Linie. Zetzsche.
Wie kommen die Stadterweiterungen zu stände?
2 Wissenschaft und Kunst des Städtebaus sind noch
nicht alt; es hat eine sehr lange Zeit gegeben, in der
man von ihnen nichts wusste und in der man sie
auch kaum vermisste. Man kann auch kaum sagen, dass die
Städte ohne sie in früherer Zeit sich erheblich schlechter be-
funden hätten, wobei man natürlich von der hygieinischen Seite
der Frage absehen muss; was aber Behagen, Poesie und male-
rische Städtebilder betrifft, möchte man jenen früheren Zeiten
eher den Vorzug geben. Diese harmlosen Zustände konnten
nun freilich in den Städten nicht fortdauern, denen die Bevölke-
rung des platten Landes und der Kleinstädte mit elementarer
Gewalt zuströmte und wo mit der Nachfrage nach Wohnungen
sehr bald auch eine rücksichtslose Spekulation immer grösseren
Umfang annahm. Es handelte sich darum, möglichst schnell
neue Gebiete der Bebauung zu erschliessen, und die dazu
nötigen Strassenzüge wurden zumeist nur mit Rücksicht auf
diesen einseitigen Zweck entworfen. Die Kenntnis des Strassen-
baus war seit Napoleons 1. harter Schule nicht mehr verloren
gegangen; vom Eisenbahnbau war den Ingenieuren das Tra-
cieren schöner gerader Strecken geläufig geworden: was konnte
zum Auslegen neuer Stadtviertel weiter fehlen? Die gerade,
möglichst horizontale Linie, mit einigen Abständen nach Be-
lieben oft nebeneinander gelegt und ein ähnliches Rastrum
unter 90° quer darüber gelegt, musste einen famosen Stadt-
plan ergeben. Diese eindimensionäre Periode, die Periode
der horizontalen geraden Linie fand aber ein Ende, als die
Entwässerungsfrage sich unbequem bemerklich machte. Es
stellte sich bald heraus, dass eine strassenweise Lösung dieser
Aufgabe nicht möglich sei; es mussten Hauptkanäle, Vorflut-
schleusen und andre Abflüsse mit natürlichem Gefälle zugleich
mit den Strassen ins Auge gefasst werden; die dazu gehörigen
Niveauverhältnisse lenkten die Aufmerksamkeit auf die zweite
Dimension: das Niveau fing an, den Bebauungsplan zu beein-
flussen. Nun kamen die Verkehrsfluten in ungeahnter Mächtig-
keit in die nach alter Gewohnheit bemessenen Strassen, die
Strassenbahnen beanspruchten einen Teil ihrer Breite für sich,
die Hygieiniker forderten für die vielgeschossigen Gebäude
entsprechend breite Strassen: die Periode der dritten Dimen-
Berliner Kunstausstellung 1903.
Seitenportal im blauen Saal.
Architekt: Alfred J. Balcke
in Berlin.
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ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU
Heft 11
Berliner Kunstausstellung 1903.
Mittelportal im blauen Saal.
Architekt: Alfred J. Balcke
in Berlin.
Karl Moritz führt 2 grosse Zeichnungen des Kölner und Dortmunder
Stadttheaters vor, Bruno Möhring die Architektur der Strassenbrücke
über das Syrathal in Plauen i. V.
Breslauer & Salinger haben das sehr gut ausgeführte Modell und
Zeichnungen des Seemannshauses in Wilhelmshaven ausgestellt, Albert
Gessner die Skizze zu einem Sanatorium, Brantzky einen stimmungs-
vollen Entwurf zu einem Grabmal (Radierung), Erdmann & Spindler,
Spalding & Grenander, Alfr. Gessner, Bodo Ebhardt und
A. Lange Entwürfe zu Landhäusern, William Müller seinen (bereits
in Heft 6, Jahrgang 1902 der Rundschau abgebildeten) Entwurf zum Ham-
burger Bismarck-Denkmal, Kurt Diestel den ebenfalls preisgekrönten Ent-
wurf für eine Bismarck-Säule für Chemnitz und Frhr. v. Tettau den Ent-
wurf einer Grabkapelle. Gustav Halmhuber hat 6 Entwürfe für Innen-
dekoration geschickt u. s. w.
Eine reiche Sammlung von Entwürfen aller Art des verstorbenen Ale-
xander Linnemann in Frankfurt a. M., welche die Bedeutung und Viel-
seitigkeit seines Schaffens veranschaulichen, bildet eine besondere Gruppe.
Hier sehen wir auch den imposanten Entwurf des verewigten Meisters für
den dreitürmigen Ausbau der Westfront des Meissner Doms. Mag dieser
dem Charakter der Baugruppe vielleicht am besten entsprechen, für die
Ausführung derartiger Ergänzungsbauten wird die Begeisterung immer mehr
schwinden, je allgemeiner und ernster man sich der neuen Aufgaben
unsrer Zeit bewusst wird, zu deren monumentaler Durchführung jetzt
leider meist keine ausreichenden Mittel vorhanden sind.
An die linke Reihe der Seitenräume schliesst sich eine weitere Gruppe
kunstgewerblicher Schöpfungen an, unter denen Wilhelm Kimbels »Ver-
such zur Ausgestaltung einer besseren bürgerlichen Mietwohnung« (aus-
geführt von Kim bei & Friederich sen), der Empfangs-, Wohn-, Ess- und
Schlafzimmer umfasst, nicht nur in Bezug auf den Umfang, sondern vor
allem durch vornehme Sicherheit in der Wahl der Mittel und prächtige
Ausführung der Arbeiten an erster Stelle steht. Dies wird um so augen-
fälliger durch die unmittelbare Nachbarschaft des Empfangsraumes von
A. Biberfeld mit den gesuchten Formen und Farben, besonders aber
mit dem überaus plumpen Metallwerk am Kamin und den durch nichts
motivierten schweren eisernen Gehängen, die im Oval unter der Decke
herumhängen, um winzige Glühlampen zu tragen. Wie die festliche und
trauliche Beleuchtung eines Wohn- oder Speisezimmers durch eine grosse
Anzahl einzelner Glühlampen wirkungsvoll zu gestalten ist, ist in den
Ki mb el sehen Räumen überzeugend vorgeführt.
Eine treffliche Leistung — einfache Formen, helle freundliche Farben
und gute Arbeit — ist auch das von Architekt Georg Honold entworfene,
von Kunsttischler C. Luckat ausgeführte Schlafzimmer mit Möbeln aus
Zitronenholz mit Ornamenten in Altgold, von denen wir hier zwei Auf-
nahmen wiedergeben.
Nimmt man das Biberfeldsche Empfangszimmer und das Musikzimmer
von Schaudt aus, so haben wir diesmal lauter Räume, in denen man gut
und behaglich wohnen könnte, die den ernsthaften Wunsch, sie selbst zu be-
sitzen, anregen. Dass von einem Teile des Publikums die zarten Farben und
die hellen Hölzer des besonders ansprechenden Kimbelschen Speisezimmers
und des Honoldschen Schlafzimmers als »so unpraktisch bezeichnet werden,
lässt nur erkennen, wie viel die sogenannten gebildeten Kreise in Bezug
auf Wohnungshaltung noch zu lernen haben, bis sie auch nur annähernd
als reif für ein eigenes, künstlerisch eingerichtetes Wohnhaus gelten können.
So bietet die Ausstellung der Architektur und des Kunstgewerbes dies-
mal eine Fülle guter und hervorragender Arbeiten und Entwürfe. Sie zeigt
— sehr im Gegensatz zu Malerei und Plastik — ein kräftiges und ziel-
bewusstes Fortschreiten auf der ganzen Linie. Zetzsche.
Wie kommen die Stadterweiterungen zu stände?
2 Wissenschaft und Kunst des Städtebaus sind noch
nicht alt; es hat eine sehr lange Zeit gegeben, in der
man von ihnen nichts wusste und in der man sie
auch kaum vermisste. Man kann auch kaum sagen, dass die
Städte ohne sie in früherer Zeit sich erheblich schlechter be-
funden hätten, wobei man natürlich von der hygieinischen Seite
der Frage absehen muss; was aber Behagen, Poesie und male-
rische Städtebilder betrifft, möchte man jenen früheren Zeiten
eher den Vorzug geben. Diese harmlosen Zustände konnten
nun freilich in den Städten nicht fortdauern, denen die Bevölke-
rung des platten Landes und der Kleinstädte mit elementarer
Gewalt zuströmte und wo mit der Nachfrage nach Wohnungen
sehr bald auch eine rücksichtslose Spekulation immer grösseren
Umfang annahm. Es handelte sich darum, möglichst schnell
neue Gebiete der Bebauung zu erschliessen, und die dazu
nötigen Strassenzüge wurden zumeist nur mit Rücksicht auf
diesen einseitigen Zweck entworfen. Die Kenntnis des Strassen-
baus war seit Napoleons 1. harter Schule nicht mehr verloren
gegangen; vom Eisenbahnbau war den Ingenieuren das Tra-
cieren schöner gerader Strecken geläufig geworden: was konnte
zum Auslegen neuer Stadtviertel weiter fehlen? Die gerade,
möglichst horizontale Linie, mit einigen Abständen nach Be-
lieben oft nebeneinander gelegt und ein ähnliches Rastrum
unter 90° quer darüber gelegt, musste einen famosen Stadt-
plan ergeben. Diese eindimensionäre Periode, die Periode
der horizontalen geraden Linie fand aber ein Ende, als die
Entwässerungsfrage sich unbequem bemerklich machte. Es
stellte sich bald heraus, dass eine strassenweise Lösung dieser
Aufgabe nicht möglich sei; es mussten Hauptkanäle, Vorflut-
schleusen und andre Abflüsse mit natürlichem Gefälle zugleich
mit den Strassen ins Auge gefasst werden; die dazu gehörigen
Niveauverhältnisse lenkten die Aufmerksamkeit auf die zweite
Dimension: das Niveau fing an, den Bebauungsplan zu beein-
flussen. Nun kamen die Verkehrsfluten in ungeahnter Mächtig-
keit in die nach alter Gewohnheit bemessenen Strassen, die
Strassenbahnen beanspruchten einen Teil ihrer Breite für sich,
die Hygieiniker forderten für die vielgeschossigen Gebäude
entsprechend breite Strassen: die Periode der dritten Dimen-
Berliner Kunstausstellung 1903.
Seitenportal im blauen Saal.
Architekt: Alfred J. Balcke
in Berlin.
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