Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Bewegung: Zeitung d. dt. Studenten — 12.1944

DOI Heft:
Nr. 6 (Juni 1944)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6620#0056
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
CHEMISCHE GESTALTUNG

Stoffe, Kräfte und Gedanken / Von Professor Dr. Peter A. Thiessen, Berlin

s ist der Auftrag an uns Studenten ergangen, politische Kraft, Tapferkeit und Treue der Herzen
auf das engste mit der geistigen Leistung zu verbinden. Unserem Volk wird daraus größter
Nutzen, unseren Feinden größter Schaden erwachsen. Damit erhalten wir auch die akademische
Freiheit im besten Sinne des Wortes. Der Werf der Persönlichkeit, die jeder echte Student gerade
heute verkörpern möchte, hat sich durchgesetzt und wird im höchsten Sinne anerkannt.

DR. G. A. SCHEEL

I

Der Wunsch des Mensrhen nach völliger Beherrschung sei-
ner stofflichen Umwelt ist uralt. Er fand seinen Ausdruck in
dem Suchen nach dem „Stein der Weisen". Sein Besitz sollte
dem Finder erlauben, die Wandlung jeder Materie, vor allem
.in Gold, zu erzwingen. Der erwartete Segen einer solchen
Entdeckung müßte freilich unabwendbar dem gleichen Fluche
unterliegen, wie das Geschenk der Götter an König Midas, dem
alle Dinge unter der Berührung zu Golde wurden.

Dabei enthält das Symbol vom „Stein der Weisen" die
wesentlichen und dauernd gültigen Grundsätze stofflicher Ge-
staltung: die Möglichkeit stofflicher Wandlung schlechthin
und die Erzielung einer möglichst wertvollen Form der Materie.

Diese wurde in edlen Stoffen, wie dem Golde, gesehen,
dessen Zauber und Ansprüche bis zum heutigen Tage zähe
und erbitterte Verteidiger finden. Dabei ist sein Wert, gemes-
sen an seinem tatsächlichen, im Gebrauch bewährten Nutzen
gering. Farbe, Glanz, Härte, Ausdauer und auch Seltenheit
edler Metalle und Steine werden zwar immer zum Wunsche
nach Besitz und Hortung reizen; in einer ihrer wesentlichsten
Eigenschaften, in der Fähigkeit, äußeren Angriffen zu wider-
stehen, liegt indes auch ihre Schwäche.

In dieser Art der Betrachtung verdient
einen besonders hervorragenden Platz im
Bereiche der Stoffe der Kohlenstoff. In einer
seiner reinen Formen, als Diamant, wird ihm
dieser von alters her eingeräumt. Seine wahre
Bedeutung hat dem Kohlenstoff aber erst eine
«ehr junge Zeit zuerkannt. Er hat sich als der
weitaus leistungsfähigste Träger stofflicher
Gestaltung erwiesen. Rund 330 000 chemische
Verbindungen sind insgesamt bekannt; von
ihnen gründen sich 300000 auf den Kohlen-
stoff, während alle Elemente zusammen mit
etwa 30 000 bekannten Verbindungen kaum
den zehnten Teil bestreiten. Der Kohlenstoff ist da-
mit gewissermaßen der „Arbeiter unter den Grundstoffen". Er
ist weiterhin ein ausgesprochen „soziales Element" mit aus-
geprägtem Gemeinschaftswillen. Das Kohlenstoffatom hat die
besondere Fähigkeit, mit seinesgleichen zu Ketten, Ringen und
Netzen zusammenzutreten. Unter Einbeziehung einiger anderer
Elemente — vorwiegend Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff,
Schwefel — bildet er dabei Körper von einer unerhörten
VielfaltderErscheinungen, Eigenschaf tenund
Wirkungen.

Werkstoffe höchster Leistungsfähigkeit

Die Krönung und besondere zukunftsweisende Bedeutung
dieses Zweiges der Chemie, der „organischen Chemie", liegt
indes in der Möglichkeit, durch Synthese Körper mit „außer-
natürlichen Eigenschaften" zu finden, die in Wirkung und
Brauchbarkeit die Naturprodukte vielfach zu übertreffen ver-
mögen und Arbeits- und Werkstoffe höchster Leistungs-
fähigkeit darstellen.

In diese Reihe gehören die motorischen Treib- und
Schmierstoffe. Sie sind verhältnismäßig einfache
Kohlenstoffverbindungen und enthalten nur eine recht geringe
Zahl von Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen, die in Ge-
stalt gerader oder verzweigter Ketten oder auch in Ring-
form angeordnet sind. Bis vor kurzem schien ihre Gewinnung
ganz überwiegend art das natürliche Erdöl gebuijr)-- zu sein.
10 ~^l%XiX3tlg der jüngsten ZeU •«■ine' inre Synthese
aus der Kohle, die in Deutschland inzwischen in größtem
Maßstabe technisch durchgeführt wird Verwickelter gebaute
Kohlenstoffverbindungen sind die Farbstoffe. Ihre Darstel-
lung aus dem Teer der Steinkohle gab der Kohlenstoff-Chemie
einen entscheidenden und folgenreichen Auftrieb. Es entstand
nicht nur eine fast unabsehbare Reihe wertvoller Farbstoffe,
sondern die bei ihrer Erkundung und Gewinnung gesammelte
Erfahrung vertiefte und verbreiterte die Kenntnis und Reich-
weite der Kohlenstoff-Chemie entscheidend. Auf diesem Bo-
den erwuchs auch die Synthese der Heilmittel,
deren jüngste Vertreter im Kampfe gegen Schlafkrankheit, Ma-
laria und schwere Volksseuchen zu weithin sichtbaren Zeichen
der Erfolge deutscher Forschung wurden.

Der Einsatz synthetischer Farbstoffe und Heilmittel griff in
die Wirtschaft und sogar in die Politik der Welt wiederholt sehr
fühlbar ein. Viel weitergehende Einflüsse dieser Art bahnen
sich indes gegenwärtig an durch die Entwicklung neuer
Werkstoffe auf der Grundlage von Kohlenstoffverbindun-
gen. Dazu gehören die Kunstfasern, das große Gebiet der
Kunststoffe sowie die synthetischen, kautschuck-elastischen
Körper von der Art des Buna. Alle diese Stoffe sind darstellbar
auf der Grundläge von Kohle, Kalk, Wasser und Luft als Roh-
stoffen; sie lassen sich sehr weit auseinander liegenden tech-
nischen Ansprüchen hervorragend anpassen. Zur Zeit eröffnen
sie sogar völlig neue Wege der technischen Gestaltung. Sie
lösen dabei eine Reihe gewohnter metallischer Werkstoffe mit
solchem Erfolg ab, daß mit einem Bruch mancher weltwirt-
schaftlicher Entwicklung gerechnet werden muß.

Die synthetischen Werkstoffe* auf der Kohlen-
stoff-Basis übertreffen in ihrer Gebrauchsgüte bereits jetzt viel-
fach die Naturstoffe, deren Stelle sie zunächst vertreten sollten.
Ihre Entwicklung folgte dabei öfter den Bauplänen der Na-
turstoffe, deren Erkenntnis ebenfalls ein Ergebnis der Kohlen-
stoff-Chemie darstellt.

Die Chemie der Naturstoffe hat gegenwärtig eine
sehr große Bedeutung erlangt. Sie erfaßt natürliche Werkstoffe
ebenso wie die Bestandteile und den Stoffwechsel der Organis-
men. Neben Trägern der Lebensvorgänge, wie etwa
Eiweißkörpern und Kohlehydraten erforscht sie mit Steigen-
dem Erfolge in den Wirkstoffen — wie Vitaminen, Hormonen,
Fermenten — die Regler der Lebensvorgänge.

Hierwird'ein Grenzland erreicht, in dem be-
lebte und nicht belebte Materie auf das engste
miteinander verflochten sind. Die Grenze
von der toten Materie zum Leben wird freilich
auch in diesem Bereiche nicht überschritten
werden. Berücksichtigen wir aber, daß alle
diese Erfolge erst Anfänge sind, so dürfen wir
den Glauben haben, daß weiteres und tieferes
Erkennen der Umsetzungen des Kohlenstoffs
noch ungeahnte Züge in unser We'ltbild zeich-
ne n werden.

In diesem Zusammenhang zeigt sich allgemein, daß starke
Antriebe für die Forschung im Bereiche der Stoffe entstehen,
wenn gewohnte Rohstoffe knapp werden, oder wenn ein bis-
lang nicht sonderlich genutzter Stoff in großer Menge anfällt.
Unter beiden Gesichtspunkten gewinnt die Chemie eines
Leichtmetalls, des Magnesiums, in unseren Tagen zuneh-
mende Bedeutung. Magnesium ist ein Werkmetall, das in Form
von Salzen bei uns in praktisch unerschöpflichen Mengen
vorkommt; man kann es geradezu als das „deutsche Leicht-
metall" bezeichnen.

Leichtmetalle gewinnen ständig an Wert. Forderungen des
Flugzeugbaues und des Leichtbaues von Kraft-

f ahrzeugen verbinden sich mit der Notwendigkeit, gewisse
knappe Schwermetalle zu ersetzen. Das bekannteste unter den
Leichtmetallen wurde das Aluminium, das eine sehr ausge-
dehnte Verbreitung fand. In jüngster Zeit tritt an seine Seite
das Magnesium. Man begegnete ihm mit Mißtrauen in seine
Brauchbarkeit. Seine Bereitschaft zu Umsetzungen erschien so
groß, daß man an seiner Haltbarkeit und Beständigkeit gegen
äußere Einflüsse zweifelte. Bekannt ist, daß Magnesium in Luft
leicht verbrennt. Es ist aus diesem Grunde als wesentlicher Be-
standteil von „Blitzlichtpulvern" oder als Magnesiumband in
der Lichtbildnerei ausgiebig verwendet worden. Die Erfahrung
erwies das metallische Magnesium als einen Körper, der an
feuchter Luft leicht verwitterte, brüchig wurde und leicht zer-
fiel.' Weniger bekannt war, daß Magnesium als Metall gute
mechanische Eigenschaften hatte, die sich mit einem sehr ge-
ringen spezifischen Gewicht verbanden. Dieser Zusammenhang
lockte zu Versuchendes als Werkstoff einzusetzen. Dies gelang
tatsächlich in überraschend hohem Maße.

Die Erfahrung hat gelehrt, daß man durch stoffliches
Zusammensetzen Körper sehr verschiedener Eigenschaf-
ten gewinnen kann. Wir haben in den oben betrachteten Fällen
nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus dem Bereich der Stoffe
behandeln können und uns auf einige typische Vertreter ver-
schiedener Stoffgruppen beschränken müssen. Tatsächlich
stehen indes zur Erfüllung stofflicher Forderungen 90 Elemente
zur Verfügung. Von diesen sind eine Reihe sehr selten, ein Teil
ist auch noch keineswegs völlig erforscht. Eine erhebliche An-
zahl ist aber sehr gründlich erkundet und in Eigenschaften und
Verhalten bekannt geworden. Sie bieten in der Vielfalt der Er-
scheinungen und Wirkungen, in ihren Umsetzungsfähigkeiten,
in Verbindungen und Mischungen eine nahezu unendlich breite,
tiefe und tragfähige Grundlage stofflicher Gestaltung.

*

Um auf ihr bauen zu können, ist es freilich nötig, die Kräfte
kennen und beherrschen zu lernen, die die Stoffe in ihren
Wechselwirkungen regieren. Im besonderen ist erforderlich zu

wissen, welche Energien zur Einleitung oder beim Ablauf stoff-
licher Umsetzungen einzusetzen oder gegebenenfalls zu bän-
digen sind. Derartige Fragestellungen gehören in den Bereich
der „Physikalischen Chemie".

Eines der geläufigsten Mittel, Umsetzungen
zu beeinflussen, sind Änderungen der Tempe-
ratur. Eine sehr lange Erfahrung hat gelehrt,
daß bei Steigerung der Temperatur die „Reak-
tion s b e r e i t s c h a f t" der Stoffe zunimmt, und
daß umgekehrt durch Abkühlen allzu stür-
mische Umsetzungen verzögert öder gar ver-
hindert,werden können.

Sehr oft ändert sich indes auch — bei gegebenen Bestand-
teilen — die Zusammensetzung der Körper in verschiedenen
Temperaturbereichen. Ein charakteristisches Beispiel bietet die
stoffliche Wechselwirkung zwischen Eisen und Kohlenstoff,
fachlich als „System Eisen-Kohlenstoff" bezeichnet.
Seine Abhängigkeit von der Temperatur ist technisch von aller-
höchster Wichtigkeit, da sie die Grundlage für das gesamte
Eisenhüttenwesen darstellt und auch die Verarbeitung
und den Einsatz der verschiedenen Eisensorten und Stähle
bestimmt. Beim Erhitzen von Eisen mit Kohlenstoff entstehen
nacheinander eine Reihe von Körpern, die Eisen und Kohlen-
stoff in bestimmten Mengenverhältnissen enthalten. Sie sind
untereinander in Zusammensetzung und Eigenschaften sehr
verschieden und jeweils innerhalb bestimmter Temperatur-
bereiche beständig. Die Beständigkeitsgebiete der einzelnen
Eisen-Kohlenstoff-Körper liegen in Temperaturbereichen zwi-
schen 600" bis 1500° C.

Trotzdem lassen sie sich auch ohne Änderung der Zusam-
mensetzung in das Gebiet der gewöhnlichen Zimmertempera-
turen bzw. der für die einzelnen Legierungen vorgesehenen Ge-
brauchstemperaturen überführen. Dies geschieht durch den
uralten Kunstgriff des „Abschreckens", d. h. einer schnellen
Entziehung von Wärme und entsprechend starker Senkung der
Temperatur dnrch Abkühlen.

Juni 1944 / Die Bewegung / Seite 3
 
Annotationen