Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Illuſtrierte Familienzeitſchrift

Heft 1





1926





HÖenia / Der Roman einer Rache / Von Yans von Hüilſen

Die Küſte in Sicht
D üppige Frühstück auf dem „Konung Gustaf" war

vorüber; langsam leerte sich der helle, birkengetäfelte
Speiseſaat, unter desſſen niedriger Decke blauer Ziga-
rettenrauch in langen Wolken ſchwamm.

Auch Lennart verabſchiedete ſich mit einem leichten Kopfneigen
von seinem Gegenüber, nahm die Reiſemütze vom Haken und
verließ, die Zigarre zwiſchen den Fingern, den Saal. Als er die
Tür zum Deck zu öffnen verſuchte, mußte er ſich mit Gewalt da-
gegenſtemmen, denn der Septemberſturm preßte gewaltig. Nun
er auf seinen Beinen
ſtand, merkte er erst
recht, wie unruhig das
Schiff ging. Die See
war grau und aufge-
rauht. VomUfer noch
nichts zu sehen.

Lennart verweilte
ein wenig auf dem
Deckgang und bedau-
erte, daß ſeine gute
Zigarre mehr vom
Wind als von ihm
ſelbſt geraucht wurde;
er grüßte die kleine
zierliche Kranken-
ſchwester, die vorhin
am Kopfende deines
Tiſches geſeſſen hat-
te. „Daß alles mich
heute an Genia erin-
nert!“ dachte er flüch-
tig und nicht ohne
Lächeln ~ und ſtieg
dann hinauf zum obe-
ren Deck. Der Kapi-
tän begegnete ihm, Jie
wechſelten ein paar
ſchwediſche Worte.
Lennart ſchritt, die
Hände in den Taſchen
ſeiner Gabardinejacte,
die lange ſchwanken-
de, aus ſchmalen,
ſchneeweißzen Plan-
kenzuſammengefügte
Ebene auf und nieder,
ſein Auge folgte dem
Spiel der Möwen, die
nunſchonstundenlang
in weißem Schwarm
das weiße Schiff be-
gleiteten. Eine hatte
ſich wie ein Wappen-
vogel auf die Spitze
' desMaltes geſetzt, an-
I. 1926.

Erblüht



dere trieben in wilden Figuren um ſie herum und ſchoſſen dann
und wann jäh hinunter auf die graudunkle Woge, um triefend
und gefiederſchüttelnd wieder aufzufahren.

„Nach Deutſchland, auch sie!“ dachte Lennart, und er ertappte
ſich dabei, daß seine Gedanken wieder bei Genia waren. Mocht’ es
denn sein! Hier war ja doch nichts mehr zu ändern, die Entschei-
dung längst gefallen! Er holte aus der Tasche seines Jacketts den
Brief hervor, den er geſtern morgen in Stockholm erhalten –
und sofort mit einem Telegramm beantwortet hatte. Wieder las
er (zum wievielten Male?) dieſe kurzen Zeilen in ihrer feinen,
fremdländiſchen Schrift, die immer verriet, daß ihre Hand ge-
wohnt war, Ruſssiſch
zu ſchreiben. Diese
Zeilen . .. Er mußte
lächeln, als er dach-
te, wie unvernünftig
ſchülerhaft sein Herz
geschlagen, als er sie
geſtern morgen in
den Händen gehalten.
Nunlag ein Tag, eine
Nacht und abermals
mehr als ein halber
Tag zwiſchen jenem
Augenblick des zarten
Rauſches und dieser
Stunde, da er hier auf
dem windumbrauſten
Deck des Fährſchiffs
ſtand oder ging und,
umlärmt vom Ge-
ſchreider Möwen, über
jenen Rauſch lächelte.

Er mußte plötzlich
anſein Gegenüber bei
der Schiffstafel den-
ken. Der hätte nicht
gelächelt, der hätte
ganz einfach gelacht.
Das ſchienſo einMann
der Tat und des Wil-
lens zu ſein, wie man
ſie im Leben Jeltener
als in Romanenttiffît,
eine harte, zuſam-
mengefaßte Energie,
ſo etwas wie einpraller
Muskel. Was mochte
er übrigens darſtel-
len? Die leiſe Andeu-
tung, die Lennart im
Gespräch nach dieser
Richtung ausgesandt,
war unbeantwortet
geblieben. Der Deut-
ſche hatte sie einfach
unter den Tiſch fallen



Runy1tverlag Otto Guſtav A.-G. in Leipzig

Nach einem Gemälde von Argyros


 
Annotationen