Vornan non
Sophie Hloevß
m Wiener Wald sprangen die Knospen. Amseln und Stare
flöteten die ersten Lieder, und an allen Hängen war der
Boden bedeckt mit Anemonen, Leberblümchen, Terzetten,
Krokus und Veilchen. Neben jeder Blüte stand wie ein licht-
grüner, schirmender Speer ein junger Halm, reckte seine Winzig-
keit kerzengerade in das Licht und wußte nichts mehr von dem
feuchtdunklen Grunde, aus dem sein Leben gestiegen.
Doch wie der Abend kam, fegten Wolken aus Norden heran.
Es graupelte, und zwischen Hagel und Schnee schlugen eisige
Tropfen nieder. In einem Hui waren alle frohen Farben ver-
wischt. Grau und häßlich lag die Nähe, nebelverhangen die Ferne.
Frühlingsanfang
stand im Kalender,
aber der Winter
höhntedenblonden
Brudermitheulen¬
den Winden und
mürrischenWolken-
massen. Eisig zog
es durch die Hallen
des Wiener Haupt¬
bahnhofs.
Als Maria aus
dem Auto stieg und
die Tausendkronen¬
scheine aus ihrer
Handtasche zählte,
warf ihr der Sturm
den Trauerschleier
wild um Hals und
Gesicht, riß ihn
dann jäh in die
Höhe, und sie griff
vergebens nach ihm.
Der alte Stephan,
mitdenKoffernbe-
sch äftigt, merkte die
Not seiner Herrin
nicht. Eine andere
Münnerhand griff
zu, faßte den flat¬
ternden Streifen
und legte ihn mit
einem „Bitte schön,
meine Gnädige" in
ihre Hand.
Ein leichtes Nei¬
gen des Hauptes,
dann schob sie den
Schleier unter den
Arm, hielt ihn so
fest und zahlte die
Autotare. Dabei
berechnete sie im
stillen, daß diese
Fahrt nicht hätte
sein dürfen. Sie hätte gehen sollen. Die Koffer konnte Stephan
auf einer Karre herschaffen. Die Krone war heute wieder gefallen.
Ach, was man alles nicht mehr durfte! Ein Wunder, daß noch
das Atmen erlaubt war. Wenn das noch Atmen war mit zuge-
schnürter Kehle. Sie schloß sich der langen Schlange an, die vor
dem Schalter stand. „Karten in Richtung Innsbruck, Bozen,
Verona, Venedig."
Venedig. Morgen mittag war sie dort. — War bei Elena!
Wie sie nur den Namen dachte, stieg ihr die Freude schon warm
in das Gesicht. Der große dunkle Mann, der ihren Schleier ge-
griffen hatte und der vor ihr in der Reihe stand, sah sich um.
Vielleicht suchte er
sie.Gerade bemerkte
er dies sonnige Auf-
leuchten, empfand
es wie eine Freund-
lichkeit des Augen-
blicks und wandte
sich wieder nach
vorn. Dabei sah
man, daß er die
Schultern ein we-
nig hängen ließ, als
nehme eine leichte
Schwäche seinerGe-
stalt die Straffheit.
Maria war viel
zu sehr daran ge-
wöhnt, bemerkt zu
werden, um bei sei-
nem Blick aufzu-
sehen. Sie achtete
so wenig auf ihn
wie auf einen an-
deren Beobachter,
der — dicht hinter
ihr stehend — mit
musternden Blicken
das billige Trauer-
kostüm mit der ho-
hen, schlanken Ge-
stalt und der stolzen
Haltung des Kopfes
in Einklang zu brin-
gen versuchte.
„Auch eine von
denen, der es nicht
an der Wiege ge-
sungen wurde, daß
sie einmal in dem
Schwarm stehen
muß," sagte er sich.
Schade, daß sie
nicht ein wenig den
Kopf wandte. We-
nigstens das Profil
Blumengruß / Nach einem Gemälde von Ella Räuber
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