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Das Buch

hätte er gerne gesehen. So muhte ihm der dicke rostbraune Haar-
knoten genügen, der schwer im Nacken lag. Eine vollkommen
unmoderne Haartracht. Die junge Dame mutzte den Mut der
eigenen Persönlichkeit haben.
Jetzt trat der grotze Dunkle an den Schalter heran.
„Eine Karte dritter, Venedig." Seine Stimme hatte nord-
deutschen Klang. Knapp, kurz, fast wie ein Kommando wirkten
die Worte.
Einen Haufen Scheine warf er vor das Fenster. Der Beamte
zählte; eine Million, zwei, vier, fünf —
„Venedig, eine Karte erster." Der Dunkle, im Begriff, sich zu
entfernen, warf einen Blick über die Schulter zurück. Maria
spürte es, als würde sie körperlich berührt, schon tauchte er in der
Menge unter. In der Halle fauchte bereits der Fernzug.
„Bitt' schön. Neun Millionen Gulden."
„Neun — — Wie meinten Sie?" Ihre Augen wurden dunkel
vor Schreck. „Ich hab' nur fünf-"
„Müssens halt dritter fahren."
„Dritter?" Helles Entsetzen klang aus ihrer Stimme.
Von hinten her legte jemand eine grotze Note vor den Schalter.
„Geben Sie der Dame eins erster nach Venedig und mir eins
erster Rom."
Maria wandte den Kopf, sah den Herrn — er war kein Jüngling
mehr, aber auch noch kein Greis — sehr kühl von oben herab an
und sagte: „Ich habe Ihnen zu solcher Aufmerksamkeit keine
Veranlassung gegeben, mein Herr." Dann zum Beamten: „Also
dritter." Als sie die Karte bezahlt hatte, blieb nur ein winziges
Sümmchen übrig.
Wie sie jetzt an den alten Diener herantrat, blieb ihr Hinter-
mann, als sei es zufällig, dicht neben ihnen stehen und hörte sie
sagen: „Mutzt mir das Handköfferchen an ein Abteil dritter
tragen, Stephan, es hat nicht weiter gelangt."
Ganz erschrocken starrte der Alte sie an. „Aber Euer Gnaden
können doch net — in die dritte Klass'-"
„Es wird mich nicht umbringen. Und morgen bin ich bei der Elen."
Wieder das Aufstrahlen in allen Zügen. „Und wenn die Tante
Durchlaucht kommt und will mich zu den Ursulinerinnen bringen
— mutzt einen ehrerbietigen Grutz vermelden, Stephan, und es
ließe sich nicht mehr machen. Ich wäre schon über die Grenze."
Sie schritt, von dem Alten gefolgt, an den Zug. Langsam ging
der Fremde hinter ihnen her. Mit Augen, die gewohnt waren,
nicht die kleinste Note in der Erscheinung eines Menschen unbeob-
achtet zu lassen, verfolgte er jeden Schritt, sah auf das Heben
der schmalen Fütze mit dem hohen Spann, freute sich an dem


für Alle


» Heft i

Gleichmaß in Haltung und Bewegung, in jeder Wendung des
Kopfes. Er stellte fest, daß das Gesicht trotz seiner Perlblässe nichts
Ungesundes hatte, daß die Züge in ihrer Unregelmäßigkeit doch
den aristokratischen Typ nicht verleugneten, daß der Mund nicht
klein war, aber die schönsten Zähne zeigte, wenn er — wie eben —
dem alten Diener zulächelte.
Der trug eine abgeschabte Livree. Vor zehn Jahren hätte jeder
Straßenkehrer der Residenz ihm sagen können, welch Haus seine
Leute in braune Röcke mit blauen Aufschlägen kleidete, jetzt war
solch Wissen als wertlos von einer neuen hastigen Zeit über Bord
geworfen worden.
Maria sah ihn, wie sie hinter dem alten Diener durch den Gang
des Wagens schritt, einen Platz suchend. Langsam ging der Herr
vor den Fenstern hin. Jetzt wurde er begrüßt von einem anderen.
Den kannte sie, Baron Trautendorf. Er verneigte sich so beflissen,
wie er es nur vor besonders ausgezeichneten Personen tat. Und
der andere grüßte wieder, ruhig, ohne die geringste Unterwürfig-
keit. Dennoch — den Eindruck machte er nicht, als sei er selber
ein hoher Aristokrat. Eher ein Selfmademan der modernen
Geldaristokratie.
„Damenabteil?" fragte Stephan und sah verzagt auf seine
Herrin.
Konnte er in dies Tohuwabohu ihren Handkoffer stellen? Eine
junge Frau mit Dienerin und drei Rangen, von denen zwei sich
um eine Apfelsine stritten — der Saft floß über ihre Finger —,
während das dritte Kind, noch im Steckkissen, verdrossen quäkte.
Aus der halboffenen Tür roch es dunstig und säuerlich.
„Um Gottes willen. Nicht dahinein!"
„Nichtraucher?"
Drei Plätze waren belegt, niemand zu sehen. Die Reisenden
standen noch vor dem Zug, erhandelten Lektüre, ließen die Augen
zum letztenmal über Wiener Typen hingehen, nahmen Abschied
von der einstmals so seligen Stadt, die langsam herabglitt von
ihrer Märchenhöhe.
„Ja, dort den Fensterplatz, der ist nicht belegt, den nehme ich."
Drei Minuten später saß sie am Fenster und sah müde und still
hinaus in die Halle, die schon von elektrischem Licht durchglüht
war. Man hörte durch das Fauchen und Schnauben der haltenden,
durch das Rasseln und Gellen der fahrenden Züge hindurch
dumpfen Donner. Ein Frühlingsgewitter mit Schnee und Hagel
stand über der Stadt. Es würde wieder bitterkalt werden.
Da reckte sie sich in den Schultern und atmete auf. Morgen —
morgen — wenn sie hier froren und über glitschenden Asphalt
trippelten, mit unsicheren Schritten, nut verfrorenen Gesichtern,
dann war sie im sonnigen Süden. Dann fuhr sie durch die schmalen
Kanäle der Dogenstadt. Dann leuchtete der Dogenpalast auf und
draußen das blaue offene Meer, und irgendwo am Canale Grande,
dort an der Piazzetta, wohnte Elena, und bei Elena war Zuflucht
und Heiterkeit, war Geborgenheit, war Liebe und Zärtlichkeit.
Wer konnte so entzückend wie Elena sagen: „Du mein Joujou,
du mein ganz kleines, mein ganz goldenes Joujou"?
Maria drückte sich ein bißchen fester in die Ecke — Abscheulich
hart war das Holz. Und zu denken, daß man so die ganze Nacht
fahren würde. Nicht einmal das kleinste Kissen war da, es hinter
den Kopf zu schieben. Nicht die kleinste Fußbank für die müden
Füße, die in den letzten Tagen so viel gelaufen waren. Ja, diese
drei Tage, seit Tante Jnnozentia nach ihrem langen Leiden
heimgegangen war! Und niemand bei ihr als die dicke Floren-
tine und der gute Stephan. Und als einziger Besucher und Rat-
geber die alte Exzellenz Mierendorf, die auch schon fast mit beiden
Füßen im Grabe stand. Nun ruhte die selige Tante in der Gruft
der Ursulinerinnen, wo alle ledigen Mitglieder des Hauses seit
dreihundert Jahren ihren letzten Schlaf schliefen, und morgen kam
die allergnädigste Tante Theres, und dann sollte sie, Maria,
selber zu den Ursulinerinnen-
Da schauerte sie so zusammen, daß ihr Gegenüber fragte: „Soll
ich das Fenster schließen, gnädiges Fräulein?"
Wieder der schlanke Schwarze. Sie hatte — in ihren Gedanken
vergraben — gar nicht bemerkt, wie er hereinkam.
 
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