Allein am Nachbartisch saß der ältere Herr. Den Hut hatte er
abgenommen, sie sah jetzt, sooft sie aus dem gegenüberliegenden
Fenster schaute, den ganzen energischen Kopf mit dem kurzen
graublonden Haar, dem starken Kinn, der scharfen Nase. Er aß
und trank mit schnellen Bewegungen, las dabei in einer Zeitung,
sie sah, daß es ein Berliner Blatt war, und achtete nicht auf
seine Umgebung.
„In einerViertelstundehabenwirdieGrenze,"sagteHeinZGodes-
heim. „Dann geht der ganze Trara los. Alpenjäger zu beiden
Seiten des Zuges, daß auch nicht ein einziger unvorsichtiger Rei-
sender entspringen kann.
Zollbeamtein Scharen,Pa߬
kontrolle, Kriminalbeamte
— ein Aufgebot von hundert
Mann, als bräche mit jedem
Fremdenzug die ganzeKriegs-
gefahr aufs neue herein und
Italien müßte sich seiner
Haut wehren. Gott gnade
dem, dessen Paß nicht allen
Anforderungen entspricht!
Keine Macht der Welt schafft
ihn über die Grenze."
„Ja, ich weiß. Ich habe
einen Paß, der ist vor drei
Jahren in Wien ausgestellt.
Mit Bild und eigenhändiger
Unterschrift. Wie gut, daß
ich ihn mitnahm. Damals
fuhren wir nach Bayern, da
mußte man auch einen Paß
haben. Warum machen die
Menschen nur so viele Sche¬
rereien?"
„Ausgestellt vor drei Jah¬
ren? Gnädiges Fräulein —
Aber Sie haben ihn doch
erneuern lassen?"
„Nein, warum? Das Bild
ist noch ganz ähnlich."
„Trotzdem —" Er sah sie
so erschrocken an, daß Maria
ängstlich fragte: „Kann man
mir darum Unbequemlich¬
keiten machen?"
„Und das Visum?"
„Visum? Was ist das?
Gestern abend sprach man
schon davon im Abteil."
„Die Erlaubnis der ita¬
lienischen Regierung, ausge¬
fertigt durch den zuständigen
Konsul, daß Sie nach Italien
einreisen dürfen. Es müssen
UnterschriftundStempeldes
Konsulats vorhanden sein."
„Davon hat mir niemand
etwas gesagt." Hilflos wie
ein erschrockenes Kind saß
sie vor ihm.
„Ja, was mach en wir denn
da? Müssen gnädiges Fräu¬
lein denn unbedingt weiter?
— Verzeihen Sie, die Frage
war töricht. Jetzt wieder
ganz nach Wien zurück —"
„Können mir die B eamten
hier d enn das nicht erlaub en?
Ich bin doch keine Verbre-
cherin." Sie öffnete ihre Handtasche - ein wenig abgeschabt war
die, aber der Griff von schwerem Silber in altertümlich kunst-
voller Arbeit -, zog ein Paßheft hervor und hielt es unschlüssig
in der Hand.
„Den Beamten ist solche Macht nicht gegeben. Ich fürchte —
ich fürchte, es bleibt Ihnen nur die Rückreise."
„Aber ich kann doch gar nicht —" Sie biß sich auf die Lippen.
Man sagt einem fremden Herrn nicht, daß kein Geld zur Rückreise
da ist. Der Blonde vom Nebentisch stand auf und trat hart heran.
„Vielleicht wäre ich in der Lage —" Er sprach vorsichtig und
Wunder der Welt: Buddhagaya,
der älteste Tempel der Buddhistenwelt, der an der Stelle erbaut wurde, wo der große Religions-
stifter Gautama Buddha die „göttliche Erleuchtung" empfing. (Phot. Johnston L Hoffmann)
I. 1927
abgenommen, sie sah jetzt, sooft sie aus dem gegenüberliegenden
Fenster schaute, den ganzen energischen Kopf mit dem kurzen
graublonden Haar, dem starken Kinn, der scharfen Nase. Er aß
und trank mit schnellen Bewegungen, las dabei in einer Zeitung,
sie sah, daß es ein Berliner Blatt war, und achtete nicht auf
seine Umgebung.
„In einerViertelstundehabenwirdieGrenze,"sagteHeinZGodes-
heim. „Dann geht der ganze Trara los. Alpenjäger zu beiden
Seiten des Zuges, daß auch nicht ein einziger unvorsichtiger Rei-
sender entspringen kann.
Zollbeamtein Scharen,Pa߬
kontrolle, Kriminalbeamte
— ein Aufgebot von hundert
Mann, als bräche mit jedem
Fremdenzug die ganzeKriegs-
gefahr aufs neue herein und
Italien müßte sich seiner
Haut wehren. Gott gnade
dem, dessen Paß nicht allen
Anforderungen entspricht!
Keine Macht der Welt schafft
ihn über die Grenze."
„Ja, ich weiß. Ich habe
einen Paß, der ist vor drei
Jahren in Wien ausgestellt.
Mit Bild und eigenhändiger
Unterschrift. Wie gut, daß
ich ihn mitnahm. Damals
fuhren wir nach Bayern, da
mußte man auch einen Paß
haben. Warum machen die
Menschen nur so viele Sche¬
rereien?"
„Ausgestellt vor drei Jah¬
ren? Gnädiges Fräulein —
Aber Sie haben ihn doch
erneuern lassen?"
„Nein, warum? Das Bild
ist noch ganz ähnlich."
„Trotzdem —" Er sah sie
so erschrocken an, daß Maria
ängstlich fragte: „Kann man
mir darum Unbequemlich¬
keiten machen?"
„Und das Visum?"
„Visum? Was ist das?
Gestern abend sprach man
schon davon im Abteil."
„Die Erlaubnis der ita¬
lienischen Regierung, ausge¬
fertigt durch den zuständigen
Konsul, daß Sie nach Italien
einreisen dürfen. Es müssen
UnterschriftundStempeldes
Konsulats vorhanden sein."
„Davon hat mir niemand
etwas gesagt." Hilflos wie
ein erschrockenes Kind saß
sie vor ihm.
„Ja, was mach en wir denn
da? Müssen gnädiges Fräu¬
lein denn unbedingt weiter?
— Verzeihen Sie, die Frage
war töricht. Jetzt wieder
ganz nach Wien zurück —"
„Können mir die B eamten
hier d enn das nicht erlaub en?
Ich bin doch keine Verbre-
cherin." Sie öffnete ihre Handtasche - ein wenig abgeschabt war
die, aber der Griff von schwerem Silber in altertümlich kunst-
voller Arbeit -, zog ein Paßheft hervor und hielt es unschlüssig
in der Hand.
„Den Beamten ist solche Macht nicht gegeben. Ich fürchte —
ich fürchte, es bleibt Ihnen nur die Rückreise."
„Aber ich kann doch gar nicht —" Sie biß sich auf die Lippen.
Man sagt einem fremden Herrn nicht, daß kein Geld zur Rückreise
da ist. Der Blonde vom Nebentisch stand auf und trat hart heran.
„Vielleicht wäre ich in der Lage —" Er sprach vorsichtig und
Wunder der Welt: Buddhagaya,
der älteste Tempel der Buddhistenwelt, der an der Stelle erbaut wurde, wo der große Religions-
stifter Gautama Buddha die „göttliche Erleuchtung" empfing. (Phot. Johnston L Hoffmann)
I. 1927