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Das Buch für Alle
Heft i
leise, aber man hatte nicht acht auf die kleine Gruppe. „Meine
Privatsekretärin, die mich begleiten sollte, ist erkrankt und mutzte
in Wien Zurückbleiben. Ihr Patz ist dem meinigen angefügt. Wenn
Sie gestatten Ohne ihre Antwort abzuwarten, griff er nach
ihrem Patz, nahm ihn aus der schlanken Hand, die sich nicht schnell
genug um ihn schließen konnte, und sah hinein.
Ein kurzes Stutzen, dann eine Verneigung, und dann mit der
gleichen ruhigen Stimme. „Gesicht: oval. Grütze: mittelgroß.
Haare: braun. Besondere Merkzeichen nicht vorhanden —"
Ein Griff in die Brusttasche. „Dies Bild ist — zum guten Glück
— ein wenig verschwommen. Das andere dürfte bei den sehr
allgemeinen Beschreibungen stimmen. Wollen Gnädigste, bitte,
sich Namen, Alter, Geburtsort gut merken." Und wieder, ihrer
Antwort zuvorkommend, ein Wort, das fast ein Befehl war. „Sie
haben die kranke Hand wieder vom Verband befreit, Fräulein
Marnhold. Das ist unverantwortlich. Legen Sie sie sogleich
wieder in die Binde. Haben Sie den Verband in Ihrem Abteil
gelassen? Ich werde mitgehen und sorgen, daß er umgelegt
wird.." Ganz verstört, nicht begreifend, folgte sie ihm hinaus aus
dem Speisewagen, hin zu dem Platz, auf dem er selber gesessen, in
ein Abteil erster blasse, das außer ihm keinen Insassen gehabt.
„Sie verstehen mich nicht?" fragte er. „Aber bitte, Fräulein
Marnhold — die Sache ist doch sehr einfach. Unsere Herren Kon-
trolleure haben die häßliche Angewohnheit, sehr mißtrauisch zu
sein, und wenn ihnen ein Patz nicht ganz zuverlässig vorkommt,
so fordern sie die Unterschrift des Inhabers. Ich habe soeben fest-
gestellt, daß Ihre Handschrift und die meiner Sekretärin grund-
verschieden sind. Wir werden also für alle Fälle eine verstauchte
Hand vortäuschen."
„Und wenn die Leute in ihrem Mißtrauen die Hand sehen
wollen? Es geht auch anders." Aus dem Handtäschchen hervor
tauchte ein kleines Etui mit Feile, Nagelschere und Messerchen.
Klein war das, aber haarscharf, und eh der Blonde wußte, was
sie wollte, fuhr das Messer mit blitzschnellem Schnitt quer über
Daumen und Zeigefinger. Das dünne Taschentuch färbte sich
sofort dunkelrot.
„Donnerwetter! Ich mache Ihnen ein ehrliches Kompliment.
So ist es allerdings besser. Nun aber — wir können jeden Augen-
blick einfahren. Mit dem dünnen Ding läßt sich das nicht verbinden.
Wir werden meine Tücher zu Hilfe nehmen."
„Sie sind sehr liebenswürdig, mein Herr, mir so beizustehen.
Aber ich weiß nicht, was mir eigentlich ihre Hilfe verschafft. Da
Sie meinen Patz sahen —"
„Ich wußte es vorher, daß ich einer Dame gegenüberstand.
Einer Dame, die dem Leben gegenüber wehr- und hilflos ist.
Als Sie meine gut gemeinte Hilfe am Schalter so kurz abwiesen,
wünschte ich nur, sie Ihnen doch einmal beweisen zu können. Es
gibt noch Männer, meine Gnädigste —
nein verzeihen Sie, verehrtes Fräulein
Marnhold -, die die Frauen achten, wenn
nur die Frau sich selber achtet. Dazu wäre
es nicht nötig gewesen, daß ich den Patz
sah. Und wenn Sie nun — sitzt das Tuch
auch fest? — wieder mit in den Speise-
wagen kommen wollen, — dort dürfte
sich die ganze Sache am einfachsten ent-
wickeln. Übrigens — damit Sie wissen,
wessen Sekretärin Sie für die nächste
Stunde sind — Kollmann."
Der Name sagte der Österreicherin
nichts. Sie ahnte nicht, daß in der deut-
schen Reichshauptstadt jeder Bankbeamte
bei seinem Klang sofort Gold klingen und
Scheine rascheln hörte.
Heinz Godesheim sah ihnen entgegen
mit einem Blick, in dem etwas wie Eifer-
sucht wachte. Warum hatte er es nicht
sein können, der ihr half?
„Ich darf Sie bitten, sich an meinen
Tisch zu setzen?" fragte Kollmann, doch die Frage war so gestellt,
daß es keine Ablehnung gab. „Sind Sie sicher, daß Sie die Daten
beherrschen? Lydia Marnhold. Geboren zu Remscheid, zweiund-
zwanzig Jahre alt."
„Wenigstens das Alter stimmt," lächelte Maria.
„Und kein Wort mehr sagen, als unbedingt notwendig ist.
Einer der Beamten spricht Deutsch. Die übrigen verstehen es
meistens nicht einmal. Aber da man nicht wissen kann — Vorsicht."
„Ich spreche Italienisch. Ich war als Kind ein ganzes Jahr in
Italien."
„Lassen Sie es nicht merken. Deutsche Privatsekretärinnen
sprechen es im allgemeinen nicht. Diese Damen sind meist nicht
in der Lage gewesen, sich ein Jahr in Italien zu leisten."
Wieder lächelte sie, sah ihn aber dabei dankbar an und wußte
nicht, wie leuchtend ihre Augen irr dem Augenblick waren.
Und wieder spürte Eodesheim die stechende Eifersucht, obgleich
der Blonde wohl nicht als Mann in Betracht kommen konnte.
Sie lächelte ihn aus Dankbarkeit an, aber er hätte viel darum
gegeben, wenn diese Dankbarkeit ihm zuteil geworden wäre.
Einfahrt in Station Brenner.
Brennera nannte es die neue Negierung.
Rechts und links aufgereihte Soldaten, italienische Bersaglieri.
Den Napoleonshut mit wehenden Federn auf dem Haupte, den
dunklen nagelneuen Tuchmantel stolz um Brust und Schulter
geschlagen, alles stattliche Leute mit kühnen, hübschen Gesichtern, so
standen sie da und hüteten die Grenze in voller Ausrüstung gegen
harmlose deutsche Reisende.
Es war ein glänzendes Theater, aber es gab viele spöttische
und hie und da ein paar zornerfüllte Gesichter im Zuge.
Schon wurden die Türen geöffnet, zu dreien und dreien be-
traten zwei Patzrevisionen die Abteile und forderten höflich, aber
doch mit großer Würde die Pässe.
Sorgfältig geprüft wurde einer nach dem anderen zurückgereicht,
Maria spürte die Entscheidung mit jedem Atemzug näher kom-
men. Ihr Herz schlug hart gegen die Rippen, sie wußte, daß sie
abwechselnd blaß und rot wurde. Aber keine Miene in ihrem
Gesicht veränderte sich. Als ginge das ganze nicht sie, sondern nur
ihren Chef an, der für seine Begleiterin einstehen mutzte, strich
sie sich ein Brötchen und zwang sich, einen Bissen zu kauen und
hinunterzuschlucken.
„Mein Herr, Ihr Patz."
„Bitte," sagte Kollmann. Mit einer Handbewegung nach
Maria hin: „Meine Sekretärin."
Unwillkürlich hob sie den Blick, und in diesem Blick, der den
Beamten traf, stand etwas, das ihn stutzig machte. War es Hatz?
Empörung? Hochmut? — Es sahen ihn manche so an, die aus dem
besiegten Österreich kamen, aus dem Lande des alten Erbfeindes,
aber diese Dame war — dem Patz nach
— eine Reichsdeutsche.
„Woher sind Sie, Signora?"
„Aus Remscheid." Wenn der Gestrenge
nun fragen würde, wo Remscheid lag,
dann war sie verloren. Geographie hatte
sie nie geschützt.
Doch der Italiener wußte von Rem-
scheid ebensowenig, er sah nur, daß der
Patz in Berlin ausgestellt war. Aber
irgend etwas in ihm witterte eine Un-
ordnung. Man setzte sich gern in Respekt
vor diesen Fremden. Die Anweisungen
der Behörden waren in solchen Dingen
sehr genau.
„Name? Alter?"
Wie gut, daß sie es sich eingeprägt
hatte!
„Sie werden hier einmal ihren Na-
men auf dies Papier schreiben. Wir wer-
den vergleichen. — Und wir werden
sehen." (Fortsetzung folgt)
Das Buch für Alle
Heft i
leise, aber man hatte nicht acht auf die kleine Gruppe. „Meine
Privatsekretärin, die mich begleiten sollte, ist erkrankt und mutzte
in Wien Zurückbleiben. Ihr Patz ist dem meinigen angefügt. Wenn
Sie gestatten Ohne ihre Antwort abzuwarten, griff er nach
ihrem Patz, nahm ihn aus der schlanken Hand, die sich nicht schnell
genug um ihn schließen konnte, und sah hinein.
Ein kurzes Stutzen, dann eine Verneigung, und dann mit der
gleichen ruhigen Stimme. „Gesicht: oval. Grütze: mittelgroß.
Haare: braun. Besondere Merkzeichen nicht vorhanden —"
Ein Griff in die Brusttasche. „Dies Bild ist — zum guten Glück
— ein wenig verschwommen. Das andere dürfte bei den sehr
allgemeinen Beschreibungen stimmen. Wollen Gnädigste, bitte,
sich Namen, Alter, Geburtsort gut merken." Und wieder, ihrer
Antwort zuvorkommend, ein Wort, das fast ein Befehl war. „Sie
haben die kranke Hand wieder vom Verband befreit, Fräulein
Marnhold. Das ist unverantwortlich. Legen Sie sie sogleich
wieder in die Binde. Haben Sie den Verband in Ihrem Abteil
gelassen? Ich werde mitgehen und sorgen, daß er umgelegt
wird.." Ganz verstört, nicht begreifend, folgte sie ihm hinaus aus
dem Speisewagen, hin zu dem Platz, auf dem er selber gesessen, in
ein Abteil erster blasse, das außer ihm keinen Insassen gehabt.
„Sie verstehen mich nicht?" fragte er. „Aber bitte, Fräulein
Marnhold — die Sache ist doch sehr einfach. Unsere Herren Kon-
trolleure haben die häßliche Angewohnheit, sehr mißtrauisch zu
sein, und wenn ihnen ein Patz nicht ganz zuverlässig vorkommt,
so fordern sie die Unterschrift des Inhabers. Ich habe soeben fest-
gestellt, daß Ihre Handschrift und die meiner Sekretärin grund-
verschieden sind. Wir werden also für alle Fälle eine verstauchte
Hand vortäuschen."
„Und wenn die Leute in ihrem Mißtrauen die Hand sehen
wollen? Es geht auch anders." Aus dem Handtäschchen hervor
tauchte ein kleines Etui mit Feile, Nagelschere und Messerchen.
Klein war das, aber haarscharf, und eh der Blonde wußte, was
sie wollte, fuhr das Messer mit blitzschnellem Schnitt quer über
Daumen und Zeigefinger. Das dünne Taschentuch färbte sich
sofort dunkelrot.
„Donnerwetter! Ich mache Ihnen ein ehrliches Kompliment.
So ist es allerdings besser. Nun aber — wir können jeden Augen-
blick einfahren. Mit dem dünnen Ding läßt sich das nicht verbinden.
Wir werden meine Tücher zu Hilfe nehmen."
„Sie sind sehr liebenswürdig, mein Herr, mir so beizustehen.
Aber ich weiß nicht, was mir eigentlich ihre Hilfe verschafft. Da
Sie meinen Patz sahen —"
„Ich wußte es vorher, daß ich einer Dame gegenüberstand.
Einer Dame, die dem Leben gegenüber wehr- und hilflos ist.
Als Sie meine gut gemeinte Hilfe am Schalter so kurz abwiesen,
wünschte ich nur, sie Ihnen doch einmal beweisen zu können. Es
gibt noch Männer, meine Gnädigste —
nein verzeihen Sie, verehrtes Fräulein
Marnhold -, die die Frauen achten, wenn
nur die Frau sich selber achtet. Dazu wäre
es nicht nötig gewesen, daß ich den Patz
sah. Und wenn Sie nun — sitzt das Tuch
auch fest? — wieder mit in den Speise-
wagen kommen wollen, — dort dürfte
sich die ganze Sache am einfachsten ent-
wickeln. Übrigens — damit Sie wissen,
wessen Sekretärin Sie für die nächste
Stunde sind — Kollmann."
Der Name sagte der Österreicherin
nichts. Sie ahnte nicht, daß in der deut-
schen Reichshauptstadt jeder Bankbeamte
bei seinem Klang sofort Gold klingen und
Scheine rascheln hörte.
Heinz Godesheim sah ihnen entgegen
mit einem Blick, in dem etwas wie Eifer-
sucht wachte. Warum hatte er es nicht
sein können, der ihr half?
„Ich darf Sie bitten, sich an meinen
Tisch zu setzen?" fragte Kollmann, doch die Frage war so gestellt,
daß es keine Ablehnung gab. „Sind Sie sicher, daß Sie die Daten
beherrschen? Lydia Marnhold. Geboren zu Remscheid, zweiund-
zwanzig Jahre alt."
„Wenigstens das Alter stimmt," lächelte Maria.
„Und kein Wort mehr sagen, als unbedingt notwendig ist.
Einer der Beamten spricht Deutsch. Die übrigen verstehen es
meistens nicht einmal. Aber da man nicht wissen kann — Vorsicht."
„Ich spreche Italienisch. Ich war als Kind ein ganzes Jahr in
Italien."
„Lassen Sie es nicht merken. Deutsche Privatsekretärinnen
sprechen es im allgemeinen nicht. Diese Damen sind meist nicht
in der Lage gewesen, sich ein Jahr in Italien zu leisten."
Wieder lächelte sie, sah ihn aber dabei dankbar an und wußte
nicht, wie leuchtend ihre Augen irr dem Augenblick waren.
Und wieder spürte Eodesheim die stechende Eifersucht, obgleich
der Blonde wohl nicht als Mann in Betracht kommen konnte.
Sie lächelte ihn aus Dankbarkeit an, aber er hätte viel darum
gegeben, wenn diese Dankbarkeit ihm zuteil geworden wäre.
Einfahrt in Station Brenner.
Brennera nannte es die neue Negierung.
Rechts und links aufgereihte Soldaten, italienische Bersaglieri.
Den Napoleonshut mit wehenden Federn auf dem Haupte, den
dunklen nagelneuen Tuchmantel stolz um Brust und Schulter
geschlagen, alles stattliche Leute mit kühnen, hübschen Gesichtern, so
standen sie da und hüteten die Grenze in voller Ausrüstung gegen
harmlose deutsche Reisende.
Es war ein glänzendes Theater, aber es gab viele spöttische
und hie und da ein paar zornerfüllte Gesichter im Zuge.
Schon wurden die Türen geöffnet, zu dreien und dreien be-
traten zwei Patzrevisionen die Abteile und forderten höflich, aber
doch mit großer Würde die Pässe.
Sorgfältig geprüft wurde einer nach dem anderen zurückgereicht,
Maria spürte die Entscheidung mit jedem Atemzug näher kom-
men. Ihr Herz schlug hart gegen die Rippen, sie wußte, daß sie
abwechselnd blaß und rot wurde. Aber keine Miene in ihrem
Gesicht veränderte sich. Als ginge das ganze nicht sie, sondern nur
ihren Chef an, der für seine Begleiterin einstehen mutzte, strich
sie sich ein Brötchen und zwang sich, einen Bissen zu kauen und
hinunterzuschlucken.
„Mein Herr, Ihr Patz."
„Bitte," sagte Kollmann. Mit einer Handbewegung nach
Maria hin: „Meine Sekretärin."
Unwillkürlich hob sie den Blick, und in diesem Blick, der den
Beamten traf, stand etwas, das ihn stutzig machte. War es Hatz?
Empörung? Hochmut? — Es sahen ihn manche so an, die aus dem
besiegten Österreich kamen, aus dem Lande des alten Erbfeindes,
aber diese Dame war — dem Patz nach
— eine Reichsdeutsche.
„Woher sind Sie, Signora?"
„Aus Remscheid." Wenn der Gestrenge
nun fragen würde, wo Remscheid lag,
dann war sie verloren. Geographie hatte
sie nie geschützt.
Doch der Italiener wußte von Rem-
scheid ebensowenig, er sah nur, daß der
Patz in Berlin ausgestellt war. Aber
irgend etwas in ihm witterte eine Un-
ordnung. Man setzte sich gern in Respekt
vor diesen Fremden. Die Anweisungen
der Behörden waren in solchen Dingen
sehr genau.
„Name? Alter?"
Wie gut, daß sie es sich eingeprägt
hatte!
„Sie werden hier einmal ihren Na-
men auf dies Papier schreiben. Wir wer-
den vergleichen. — Und wir werden
sehen." (Fortsetzung folgt)