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Das Buch

für Alle


Heft i

ersticken. Erst allmählich begann er unter dem Einfluß der kalten Winterluft
ein wenig freier zu atmen. Dieser abgehärtete Mann, der die größten und
grausamsten Qualen zu sehen gewohnt war, ging wie ein Trunkener, um
sich her tastend, als suche er eine Stütze für seine Gedanken. Vergebens be-
mühte er sich, die Glieder der letzten Ereignisse zu einer Kette zu vereinigen.
Wo begann die Wirklichkeit und wo hörte die Fiktion auf, der Roman, das
Filmdrama? Es war eine Tatsache, daß jemand ihm ein Kinoprogramm
in die Hand gesteckt hatte, auf dem ein Drama den Titel „Die Tochter des
Polizeichefs" trug, und daß er beschlossen hatte, einen Augenblick hineinzu-
gucken, um sich die Zeit bis zur Heimkehr seiner Tochter, Wera Dmitrijewna,
zu vertreiben. Und in diesem Lichtspieltheater sieht er Episoden aus
seinem eigenen Leben aufführen, ja, er sieht sich selbst, wie er geht und
steht, mit der hohen Stirn, den dunkeln Augen und dem kurzen Bart, auf
der Bühne wandeln und handeln. Unmöglich, wahnsinnig. Er ist der Raub
eines dummen idiotischen Traums und wird bald erwachen...
Der Polizeichef zuckt unter einem Frostschauer zusammen; es war kalt,
und der eisige Schneebrei drang durch seine dünnen Lackstiefel. Ja wahr-
haftig, es war Wirklichkeit! Er hatte soeben sich selbst im Film gesehen, Er-
eignisse aus seinem Leben vorbeiziehen sehen, die er vergessen hatte und
deren er sich zum Teil nicht erinnern wollte. Er blickte auf das Programm,
das er zusammengefaltet in der Hand hielt. Da stand die Überschrift: „Die
Tochter des Polizeichefs" — und auf der Tertseite starrte ihm sein eigenes
Bild entgegen.
Tausend Erklärungen gaukelten durch sein Gehirn. Dieses kalte und
klare Gehirn, des raschen Handelns gewohnt, hart und konsequent in
heikeln und verwickelten Situationen, begann allmählich der jagenden Vor-
stellungen Herr zu werden. Er wandte sich um und sah nach der Straße
zurück, wo die vielen Lichtkugeln des Höllenkinos ihren weißglühenden
Schein aussandten. Aus dem Häuserschatten der engen und dunkeln Gasse,
in der er stand, schienen einige dunkle Gestalten zu treten. Und mit einem-
mal packte ihn jener Zorn, der Mut gibt. Mit zusammengebissenen Zähnen
und den Stock, der an einem Lederriemen am Handgelenk hing, in der
Faust pressend, ging er auf sie zu. Scheu wichen sie beiseite, einige undeut-
liche Flüche zwischen den Zähnen murmelnd. Der Polizeichef stand allein
auf der Straße. Vielleicht war er trotz alledem nicht verfolgt! Vielleicht
war alles bloß eine Ausgeburt kranker Nerven!
Rasch wandte er sich um und ging nach der Straße zurück. Dort
rief er ein Auto an, das er nach Scotland Pard fahren ließ. Während der
Fahrt arbeitete seine Phantasie mit den Namen, die er in dem Programm
gelesen hatte. Dementjew, das war er selbst, Olga war seine Wera. Wera,
Wera — wo war sie eben jetzt? Eine Angst schnürte ihm die Kehle zusammen
und ließ seinen Herzschlag stocken. Sollte wirklich irgend jemand ein Atten-
tat gegen sie planen, ein Haar auf ihrem Haupte krümmen wollen? Wieder-
um fühlte er einen weißglühenden Zorn brennend durch seine Nerven
zucken, und eine Vorstellung von unheimlicher Kraft und Klarheit erstand
vor ihm, wie er einen ihrer Quälgeister zwischen den Händen hielt und ihm
langsam das Leben aus der Kehle preßte, während die Todesangst dessen
Antlitz verzerrte.
Meine Nerven sind am Ende, dachte er. Nimmermehr kehre ich nach
Rußland und zu diesem entsetzlichen Beruf zurück. Wer weiß, ob nicht
die Missetaten der Väter...?
Das Auto war am Ziel. Mit einem liebenswürdigen Lächeln, wenn auch
ein wenig erstaunt, empfing ihn der Chef. Er reichte ihm das Programm
mit dem Bilde und erklärte in kurzen Worten die Situation.
Der englische Polizeibeamte saß eine Weile stumm. Sein geübtes Gehirn
kombinierte rasch und sicher. Der Russe hatte erwartet, ihn die Achseln
zucken und lächeln zu sehen. Aber das tat er nicht. Er blieb ganz ernst.
„Ja," sagte er endlich, „dieser Fall ist eine Kombination von Zufall und
Verbrechen. Es ist klar, daß der Film nicht Ihretwegen eingespielt wurde.
Aber es ist glaubhaft — ich sage glaubhaft — daß einer Ihrer Feinde sich
seiner bedienen wollte. Hatten Sie einmal mit einem Individuum zu
tun, das Bogoljubow hieß oder vielleicht Lubinski?"
„Bogoljubow," erwiderte der Polizeichef, und vor seiner Erinnerung
stand nur allzu deutlich die Episode, da er, an der Mutter und dem Bruder
des Bogoljubow rasch vorüberschreitend, seinen Wagen bestieg und davon-
sauste.
Der englische Polizeichef verlangte eine Nummer im Fernsprechver-
zeichnis und erhielt Verbindung mit der Firma, die „Die Tochter des
Polizeichefs" eingespielt hatte. Was sie von dem Verfasser und den Spie-
lenden wüßten? Der Film war von
einem russischen Schauspieler namens
Bogoljubow eingereicht worden, der
auch die Hauptrolle spielte und die Regie
in der Hand hatte. Seine Adresse? Die
wußte man nicht, seit damals hatte man
nichts von ihm gehört. Aber er hatte

versprochen, binnen kurzem mit einem neuen Manuskript zu kommen.
Wahrscheinlich weile er irgendwo auf dem Lande, um in Ruhe arbeiten zu
können ... Das war alles. Guten Tag!
Mit derselben unerschütterlichen Ruhe, als spreche er von gleichgültigen
und natürlichen Dingen, wandte der Engländer sich an seinen Gast.
„Erzellenz, es ist offensichtlich, daß der in Rede stehende Bogoljubow
ein Erlebnis niedergeschrieben hat, das, scheint es, auf Wirklichkeit beruht."
Der Engländer sah seinen Gast mit kalten, prüfenden Augen an. „Ent-
weder ist nun das Ganze ein Scherz — oder-Aber glauben Sie
wirklich, daß diese Menschen imstande wären, in Wirklichkeit umzusehen,
was wie eine ziemlich phantastische Dichtung klingt?"
Der Russe nickte schwach lächelnd.
„Wir Russen sind zu allem fähig. Sie wissen vielleicht nicht, was für
verzweifelte Menschen das sind."
„Haben Sie Furcht?"
Der Russe sah den anderen mit durchdringenden Blicken an.
„Haben Sie eine Tochter?"
Der Gefragte nickte.
„Ja — ah, ja. Ich verstehe Sie. Ihre Hand. Wenn Sie nun zu Ihrem
Hotel zurückkehren, will ich dafür sorgen, daß Sie von drei Männern be-
wacht werden. Sie werden Sie nicht aus den Augen lassen. Ist Gefahr im
Verzüge, so nehmen Sie Ihr Taschentuch und trocknen Sie Ihre Stirne.
Sollte Ihnen dagegen dieser Schutz unnötig erscheinen, so lassen Sie es
zu Boden fallen."
Der Polizeichef setzte den Hut auf und ging zu seinem Auto hinaus.
Er lehnte sich zurück und zündete eine Zigarette an. Seine Hand zitterte,
und das Armband um das Handgelenk klirrte leise, aber ihm schien es wie
das Rasseln einer Kette. Allmählich erst gewann er Ruhe und Festigkeit
zurück.
Gelassen reichte er dem Chauffeur einen Schein und trat in das Hotel,
ohne sich um das Wechselgeld zu kümmern. Dann ging er hinüber zu dem
Portier. Es waren sieben Schritte vom Eingang bis zur Portierloge, und
er wußte, daß er dorthin gehen müsse, um zu fragen, ob Miß Wera daheim
sei. Er wußte, daß keine Macht auf Erden dies von ihm abwenden konnte,
daß er jetzt, in einer Minute, hinträte und sich Gewißheit verschaffte,
diese Gewißheit, die Leben oder Tod war, nichts Geringeres, nicht etwa
ein Unglück, das betrauert und vergessen werden konnte, sondern rundweg
Leben — oder Tod. In einer einzigen unmeßbaren Sekunde blickte er
zurück, sah gleich Schatten in langen unendlichen Reihen die vergangenen
Jahre mit all ihren Handlungen. Und ihm war, als wären sie alle einzig
und allein nur dazu gewesen, nur zu dem einen Zweck, daß er innerhalb
einer Sekunde der Gewißheit entgegentreten mußte: Leben — oder Tod.
Der Portier lüftete die mit Tressen besetzte Mütze und steckte sein bestes
Trinkgeld lächeln auf.
„Nein, Exzellenz, die junge Dame ist noch nicht zurückgekommen."
rzellenz saß in einem Stuhl in der Halle und sah starr vor sich hin. In
anderen Stühlen gruppiert saßen drei Herren, die ihn hinter ihren
Zeitungen beobachteten. Die Augen der Erzellenz waren nach der Tür
gerichtet.
„Dmitri Pawlowitsch," hörte er eine Stimme hinter sich — und als er
sich umwandte, stand vor ihm ein junger Mann in abgetragenen blank-
gebürsteten Kleidern. — „Dmitri Pawlowitsch — Sie wissen, worum es sich
handelt."
Der Polizeichef nickte.
„Folgen Sie mir?"
„Ist es sicher, daß ihr kein Leid geschieht?" fragte er.
„Bei dem Kreuz Christi," sagte der andere, „ich schwöre es Ihnen. —
Es tut mir leid, Dmitri Pawlowitsch, es tut mir leid, wenn ich Ihren Schmerz
sehe, verzeihen Sie mir, Dmitri Pawlowitsch, der Himmel ist mein Zeuge,
ich würde es ändern, wenn ich könnte. Aber ich kann nicht — Sie glauben
mir wohl — Dmitri Pawlowitsch? Es tut mir leid, wir alle sind Menschen
und Brüder in Christo, aber was soll ich tun? Um Gottes willen, dulden
Sie bloß nicht, daß etwa englische Detektivs Ihnen folgen, sonst sind Sie
beide verloren."
Der Polizeichef saß regungslos.
„Sind Sie krank, Dmitri Pawlowitsch ? Sie sind so bleich, und Ihre Hand
zittert."
„Ja, wohl zittert mir die Hand," versetzte der Polizeichef. „Und wohl
bin ich bleich."
Auf seiner Stirn perlte kalter Schweiß.
Dann nahm er sein Taschentuch her-
vor und ließ es langsam auf den Boden
fallen.
(Einzig autorisierte Übersetzung aus dem
Schwedischen von Emilie Stein.)
 
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