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Fortsetzung

vornan von
Sophie Hioevß


/^°^^ie Lage, in der sich Kollmann und seine Begleiterin
^befanden/'war kritisch. Auch die beiden Begleiter des
italienischen Patzrevisors wurden unruhig, aber aus einem
anderen Grund. Jeden Augenblick konnte der Münchner V-Zug
signalisiert werden, die unseligen Verspätungen dieses Morgens
drängten zur Eile.
Aber ihr Vorgesetzter lietz sich nicht beirren.
Er nahm einen Tintenstift aus der Tasche und hielt ihn Maria
hin, der Verdacht sprach deutlich aus dem Blick, mit dem er ihren
Verband betrachtete.
„Alles verloren," dachte Godesheim. Ihm brach der kalte
Schweiß aus. Sorgsam entfernte Maria den Verband.
„Ein bitzchen schnell, Signora." Selber griff er zu, das Tuch
von der Hand zerrend. Nun würden die gesunden Finger zum
Vorschein kommen. Ma¬
ria spannte die Muskeln,
das Blut mutzte sofort zu
rieseln beginnen, und da¬
bei sagte sie: „Ich schnitt
mich mit einem Glase,
mein Herr. Etwas Rück¬
sicht gegen eine Dame,
wenn ich bitten darf."
Da quoll es schon rot
aus dem Tuch und lief
dem erschrockenen Beam¬
ten auf die Hand.
„Diavolo," er zuckte zu¬
rück. „Sie werden schrei¬
ben mit dem Tuch — es
wird gehen —"
Im gleichen Augenblick
hörte man von draußen
Lärm, Signale, Geschrei,
Rennen, Pfeifen — alles
stürzte an die Fenster, die
Beamten liefen zur Tür
— eine Maschine fauchte
und zischte, daß die Luft
draußen in einem Augen¬
blick mit Dampf wie mit
Nebel erfüllt war — ver¬
schiedene Reisende spran¬
gen aus den Wagen und
wurden von den Solda¬
ten zurückgedrängt.
Der Münchner Zug,
auch schonverspätet, hatte
das Signal „Strecke be¬
setzt" überfahren — oder
war es nicht gegeben? —
Kaum zehn Meter hinter
dem letzten Wagen des
WienerZugeswarerzum
Stehen gebracht worden.
Lärm und Vorwürfe
auf beiden Seiten. Die
Italiener schrien und ge-

stikulierten. Die Deutschen sagten weniger, aber an Deutlichkeit
ließen ihre Ausdrücke nichts zu wünschen übrig. Zornmütig nahmen
sie ihre Kisten und Päckchen, stiegen aus, wurden mit Geleit zum
bereitstehenden Gegenzug geführt, und italienische Eisenbahner
besetzten die beiden Züge.
„Zur Zollrevision!"
Kollmann erhob sich. „Soll ich Ihren Koffer mit untersuchen
lassen, Fräulein Marnhold? Wollen Sie ihn mir anvertrauen?"
„Ich habe noch Gepäck außerdem."
„Geben Sie mir den Schein."
Er stieg aus, Maria lehnte sich mit erleichtertem Aufatmen zu-
rück. Die Beamten gingen schon nach hinten zum zweiten Zug
— die Unterschrift würde ihr erspart bleiben.
„Ich habe Blut geschwitzt," sagte Godesheim leise, neben sie
tretend.
„Oh, aber warum? Ich
hatte die Schrift gesehen.
Klein und zierlich, ich
hätte gekritzelt. So mit
wunden Fingern — das
konnte ja nicht ähnlich
werden. Aber — besser
ist's so."
„Ihr Kaffee ist über
dem allem eiskalt gewor-
den. Wir werden noch
einmal bestellen. Bitte
sehr —" Er hatte schon
nach dem Ober gerufen.
Als Kollmann zurückkam,
saßen die beiden in bestem
Einvernehmen vor ihren
frisch gefüllten Tassen,
und Godesheim strich sorg-
sam Marias Brötch en, da-
mit sie die wunde Hand
schonen konnte.
Zehn Minuten später
war der Zug über die
Grenze, und nach einer
weiteren Viertelstunde er-
hob sich das Mädchen,stand
schlank und vornehm vor
ihrem Beschützer und
sagte: „Ich danke Ihnen
aufrichtig, mein Herr, für
Ihre Ritterlichkeit. Jetzt
möchte ich in meinCoupo
zurückgehen. Glückliche
Reise!"
„Auf Wied ersehen," ein
Stocken, nicht länger als
eine Sekunde, „gnädi-
ges Fräulein. Vielleicht
führt uns das Leben noch
einmal zusammen. Sie
dürfen versichert sein, daß
ich dann — wie hier —

Ein lieber Besuch / Nach einer künstlerischen Aufnahme von Wörsching
 
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