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„Nein, niemand weiß, daß ich komme. Ich muß erst die Adresse
meiner Schwester erfragen. Auf der Polizei, nicht wahr, da wissen
sie, wo jeder wohnt?" Das hatte ihr der alte Diener gesagt.
„Aber Sie können doch nicht selber dorthin fahren? Wollen
Sie mich im Wartesaal erwarten, so werde ich so schnell wie mög-
lich nachfragen. Vielleicht ist es telephonisch zu ermitteln."
„Sprechen Sie denn Italienisch?"
„Es reicht zur Not."
„Sie sind sehr liebenswürdig. Ja, wenn Sie das erfragen
können, wo" — ein kurzes Zaudern — „wo die Baronin Biron
wohnt. Baron und Baronin Biron. Man wird es Ihnen doch
sagen?"
„Ich wüßte nicht, warum man es mir verheimlichen sollte."
Baronin Biron. Das war also die Schwester. Und wie hieß sie?
Aber danach fragen konnte er nicht.
„Und wenn man wissen will, für wen Sie anfragen — Maria
von Erdmannsdorf."
Konnte sie anders heißen als Maria? Ihm war, als hätte er
das schon längst gewußt.
Eine halbe Stunde später konnte er sie an die Gondel geleiten,
ihr Gepäck hineinbugsieren und dem Gondelier sagen: „Canale
Cordova." Dann sah er das schlanke schwarze Fahrzeug im Gewirr
ähnlicher Fahrzeuge verschwinden, stand und starrte ihm nach,
und sagte leise vor sich hin: rivsctsroi, Maria."
Und mit einemmal wurde ihm ganz jugendhaft übermütig zu
Sinn. Er hatte ihren Namen. Er hatte wenigstens einen Faden
durch die Anschrift der Schwester, er hatte ihr Bild als Zeichnung
in seiner Mappe, und mit leuchtenden Farben gemalt in seinem
Kopf — Herz wollte er doch nicht gleich sagen. — Ach, das Schick-
sal war ihm seit zehn Jahren so viel schuldig geworden, er mußte
es einmal ernsthaft angehen, sich auf seine Spendepflicht zu be-
sinnen.
„Auf Wiedersehen, süße Maria."
s war nicht der Canale Grande, an dem Elenas Palazzo lag.
Es war ein elendes schmales dunkles Wasser, aus dem Mauern
voll Moder stiegen, über dem der Dunst aller Fäulnisse hing, die
hier seit Hunderten von Jahren langsam und trüge den Gang zum
Meer gezogen, in dem aller Unrat der Stadt sich langsam zu

Boden senkte, vergraben unter ewig blauen Wogen. Marias
Augen wurden groß und dunkel, als die Gondel einbog in diesen
Wasserlauf. Ihre Nase krauste sich, ihr Herz zog sich zusammen.
Warum nur war sie so sicher gewesen, daß Elena in Glück und
Wohlstand leben müßte? Waren sie nicht alle im Elend, die
aus Nußland hatten fliehen müssen? Hatte die Tante Jnnozentia
nicht immer diese Abneigung gegen Sergei gehabt? Konnte man
sich je auf sie verlassen, wenn sie etwas sagte, was ihrem Interesse
entsprach? War damit, daß sie mit diesem abweisenden Hohn um
den Mund gesagt hatte: „Oh, Elena lebt sich einen guten Tag.
Leute wie Sergei Wladimirowitsch fallen gleich den Katzen immer
auf die Füße —" war damit wirklich eine Gewißheit gegeben?
Während ihr das noch durch den Kopf flog, legte die Gondel an.
Es war wohl ein alter Palazzo, der hier aus dem Wasser stieg.
Seine Fenster zeigten Rundbogen, aus rotem Sandstein gemeißelt
und in der Krönung irgend ein verwittertes Wappen tragend.
Sein Portal, von dem die Treppe niederführte zum Kanal, war
weit und hatte schwere Beschläge und einen riesigen Griff; im
oberen Stockwerk trat die Mauer zurück, und hinter zierlichen
Säulen war in der ganzen Breite des Baues eine Loggia sichtbar
— aber das Ganze hatte lange aufgehört, ein Stolz der Stadt zu
sein. Trübe wie die ganze Gegend, schmutzig und verfallen stand
es in seinem Weltwinkel wie ein verdrossener Greis, der nur noch
da ist, weil der letzte Gnadenstoß des Schicksals immer noch auf
sich warten läßt.
„I^ooo," sagte der Gondelier und hob die Sachen aus der
Gondel, Maria anffordernd anblickend.
Mein Gott, wo hatte er sie hingefahren! Wenn es nun gar nicht
Elenas Wohnung war? Wenn man sie verschleppte? Sie hatte
doch in den Blättern gelesen, daß so etwas vorkam. Nein, so stieg
sie nicht aus.
„Fragen Sie, ob hier Baron Biron wohnt." Sie klammerte sich
an die Gondel wie an eine letzte Sicherheit.
Der Mann stieg auf die Treppe und schlug mit dem schweren
Eisenring gegen die Tür. Es dröhnte, als liefe der Hall drinnen
durch lange Räume, hallte von Wölbungen wider und murrte
noch lange nach. Ein Fenster neben der Tür wurde geöffnet, eine
alte Frau, schlampig und mürrisch, schaute hinaus.
„Wohnen hier Baron und Baronin Biron?"
„8l, 81, 8ionoru. Der Portier soll kommen
und öffnen."
Also heraus aus dem Kahn. Das Schicksal
mußte seinen Lauf gehen. Wie das Tor sich lang-
sam auftat und dahinter eine weite Dunkelheit
gähnte, schüttelte es Maria. „Elena," sagte sie
in sich. „DerWeg geht zu dir,Elena." Und plötz-
lich ein grenzenloses Mitleid mit der Schwester.
„Hier muß ich dich finden. DuArme, du Geliebte.
Aber ich will lauter Helligkeit in dein Leben
bringen."
Straff und sicher ging sie hinter dem Mann
her, der sich mit ihrem Gepäck belud und zu
einer Treppe im Hintergründe schritt. Zwei
Türen rechts und links der Eingangshalle, die
er aufstieß, ließen das Abendlicht in den dunklen
Raum fallen. Er schien wenigstens nicht so un-
sauber und öde wie die Fassade. Möbel stan-
den in den Ecken, es blinkte aus den Zimmern
wie Glas und Spiegel, jetzt, am Fuß der Treppe,
drehte ihr Führer den Kontakt, eine elektrische
Birne in der Treppenbiegung flammte auf und
erleuchtete den Weg in das obere Stockwerk.
Mechanisch ging sie Stuse für Stufe hinauf,
spürte oben einendickenLäuferweich und schmieg-
sam unter den Füßen, sah ein Kammerzöfchen
in schwarzem Kleid und weißem Häubchen sich
entgegenkommen und fragte: „Ist die Frau Ba-
ronin zu sprechen? Sagen sie ihr, ihre Schwester
wäre gekommen."


Der Sonntagsjäger / Nach einer Radierung von Erich Gruner
Vavariavcrlag München

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