Heft 2
Das Buch für Alle
37
1apan5 Sespenslerwelt / von Lacilie 6raf
ei allen Völkern der Erde findet sich mehr oder weniger ausgesprochen
der Glaube an ein Hereingreifen der Geisterwelt in das Leben der
Menschen, die noch „atmen im rosigen Licht". Je mehr sich ein Volk von
dem alten Ausgangspunkt seines ersten, dunkel ahnenden Glaubens an
das Walten übernatürlicher Kräfte entfernt, desto mehr verblassen allmäh-
lich jene Gestalten und Bilder, in denen es die übernatürlichen, geheimnis-
vollen Mächte, die Götter, sah, die ihm schaden oder nützen konnten. Was
einst Glaube war, wird Aberglauben, das Zersetzungsprodukt einer ab-
sterbenden Glaubensform.
So leben bei uns nur noch in blassen Schatten die entthronten Gestalten
Wotans, Thors und Freias, der alten Germanengötter, als Wilder Jäger
oder Weiße Frau, als Volksaberglauben, verdrängt durch eine neue Reli-
gion. Stärker aber noch waltet im Volk die dunkle Furcht vor den ruhelosen
Seelen, den Geistern Ermordeter, die ein ungesühntes Grab fanden, oder
jener, die dunkle Schuld büßen müssen durch rastloses nächtliches Wandern.
Erzählt man nicht von Häusern, alt und verwünscht, in denen nachts der
Geist eines Mör¬
ders umgeht? Es
spukt im Keller,
flüsterndie Nach¬
barn, denn dort
sieht man näch¬
tens ein Licht
flackern-es liegt
ein Schatz be¬
graben, es klopft
mit knöcherner
Hand an die
Wand — an je¬
nem Feldweg ist
es nicht geheuer,
und so weiter.
Es gibt sogar ge¬
schichtlich legiti¬
mierte Geister,
wie die Weiße
Frau der Hohen-
zollern im alten
SchloßzuBerlin,
derGräfinOrla-
münde blutiger
Geist und man¬
che andere Ge¬
stalten.
Die Neuzeit
hat alle diese
Sagen, die im
Grunde doch nur
Äußerungen des
schlichtenmensch¬
lichen Empfin¬
dens sind, sich
mit den dunklen
Rätseln des Le¬
bens auseinan¬
derzusetzen, als
Ammenmärchen
und Aberglauben
gebrandmarkt.
Der Gebildete
gibt vor, sich ih¬
rer zu schämen,
sie sind abgetan
und nur noch
Stoff für Volks¬
lieder und Bal¬
laden — und
trotzdem werden
sie weiterleben.
Die Länder des
fernen Ostens,
die von je für
uns die Quelle
alter, wunder-
barer Märchen waren, in denen Dämonen und Geister ein wirkliches
Dasein führten, vor allem China und Japan, stehen den Fragen übernatür-
licher Dinge, dem Geisterreich vollständig anders als die Europäer gegen-
über, die sie beinahe einstimmig abgetan haben. Im Volke Japans lebt bis
heute noch der Glaube an jenes dämmernde Zwischenreich der Geister der
Abgeschiedenen, die unsichtbar, aber unlöslich mit den Lebenden verbunden
sind, mit ihnen weiterleben, als schützende oder manchmal auch unheil-
bringende Macht über ihnen walten und den größten Einfluß auf ihr Wohl
und Wehe haben. Die Geheimnisse des Jenseits sind nicht so tief und un-
überschreitbar, daß eine dunkle Kluft die Lebenden und die Toten trennte.
Leise läßt die verstorbene Mutter ihre Stimme vernehmen, oft nur schwach,
im Traum durch Bilder, die warnen. Manchmal aber, in den entscheidenden
Stunden des Schicksals, erscheint sie deutlich sichtbar an der gewohnten
Stelle, die sie im Leben einnahm, zart, aber vernehmlich die Stimme.
Sehnsüchtig greifen die Hände der Lebenden nach der teuren Gestalt,
greifen ins Nichts, der Schein erlischt —- wieder ist es dunkel und still.
Man kann sich
auch der Ver-
mittlung gewis-
ser Personen be-
dienen, wenn die
Sehnsucht nach
den Verlorenen
zu groß ist; diese
können die Gei-
ster herbeirufen.
Kniend warten
die Angehörigen,
die Beschwören-
de sitztregloswie
eine Tote, aber
nach kurzem War-
ten flüstern die
Stimmen der Er-
sehnten, und aus
der Dämmerung
des Raumes tau-
ch en sichtbar, wie
durchscheinend,
diegeliebtenZü-
ge, aber sie dür-
fen nicht lange
weilen — leise,
ab er verständlich
erfolgendieAnt-
worten auf die
zärtlichen Fra-
gen, und schon
sind sie wieder
verschwunden.
Eine junge
Mutter, deren
Sehnsucht nach
ihrem verstor-
benen Söhnchen
übergroßwurde,
begibt sich zu ei-
nem Priesterdes
Buddhatempels,
fleht ihn an, ih-
ren Knaben nur
für einige Au-
genblicke zurück-
zurufen. Lange
kniet der Prie-
ster in tiefer
Sammlung,
plötzlich sinkt er
wie leblos in sich
zusammen, denn
die Seele des
Knaben ist für
Augenblicke in
ihn eingegangen
Der Seemönch, der den Schiffern Unglück bringt / Nach einem Gemälde von Kuniyoshi
2. 1927
Das Buch für Alle
37
1apan5 Sespenslerwelt / von Lacilie 6raf
ei allen Völkern der Erde findet sich mehr oder weniger ausgesprochen
der Glaube an ein Hereingreifen der Geisterwelt in das Leben der
Menschen, die noch „atmen im rosigen Licht". Je mehr sich ein Volk von
dem alten Ausgangspunkt seines ersten, dunkel ahnenden Glaubens an
das Walten übernatürlicher Kräfte entfernt, desto mehr verblassen allmäh-
lich jene Gestalten und Bilder, in denen es die übernatürlichen, geheimnis-
vollen Mächte, die Götter, sah, die ihm schaden oder nützen konnten. Was
einst Glaube war, wird Aberglauben, das Zersetzungsprodukt einer ab-
sterbenden Glaubensform.
So leben bei uns nur noch in blassen Schatten die entthronten Gestalten
Wotans, Thors und Freias, der alten Germanengötter, als Wilder Jäger
oder Weiße Frau, als Volksaberglauben, verdrängt durch eine neue Reli-
gion. Stärker aber noch waltet im Volk die dunkle Furcht vor den ruhelosen
Seelen, den Geistern Ermordeter, die ein ungesühntes Grab fanden, oder
jener, die dunkle Schuld büßen müssen durch rastloses nächtliches Wandern.
Erzählt man nicht von Häusern, alt und verwünscht, in denen nachts der
Geist eines Mör¬
ders umgeht? Es
spukt im Keller,
flüsterndie Nach¬
barn, denn dort
sieht man näch¬
tens ein Licht
flackern-es liegt
ein Schatz be¬
graben, es klopft
mit knöcherner
Hand an die
Wand — an je¬
nem Feldweg ist
es nicht geheuer,
und so weiter.
Es gibt sogar ge¬
schichtlich legiti¬
mierte Geister,
wie die Weiße
Frau der Hohen-
zollern im alten
SchloßzuBerlin,
derGräfinOrla-
münde blutiger
Geist und man¬
che andere Ge¬
stalten.
Die Neuzeit
hat alle diese
Sagen, die im
Grunde doch nur
Äußerungen des
schlichtenmensch¬
lichen Empfin¬
dens sind, sich
mit den dunklen
Rätseln des Le¬
bens auseinan¬
derzusetzen, als
Ammenmärchen
und Aberglauben
gebrandmarkt.
Der Gebildete
gibt vor, sich ih¬
rer zu schämen,
sie sind abgetan
und nur noch
Stoff für Volks¬
lieder und Bal¬
laden — und
trotzdem werden
sie weiterleben.
Die Länder des
fernen Ostens,
die von je für
uns die Quelle
alter, wunder-
barer Märchen waren, in denen Dämonen und Geister ein wirkliches
Dasein führten, vor allem China und Japan, stehen den Fragen übernatür-
licher Dinge, dem Geisterreich vollständig anders als die Europäer gegen-
über, die sie beinahe einstimmig abgetan haben. Im Volke Japans lebt bis
heute noch der Glaube an jenes dämmernde Zwischenreich der Geister der
Abgeschiedenen, die unsichtbar, aber unlöslich mit den Lebenden verbunden
sind, mit ihnen weiterleben, als schützende oder manchmal auch unheil-
bringende Macht über ihnen walten und den größten Einfluß auf ihr Wohl
und Wehe haben. Die Geheimnisse des Jenseits sind nicht so tief und un-
überschreitbar, daß eine dunkle Kluft die Lebenden und die Toten trennte.
Leise läßt die verstorbene Mutter ihre Stimme vernehmen, oft nur schwach,
im Traum durch Bilder, die warnen. Manchmal aber, in den entscheidenden
Stunden des Schicksals, erscheint sie deutlich sichtbar an der gewohnten
Stelle, die sie im Leben einnahm, zart, aber vernehmlich die Stimme.
Sehnsüchtig greifen die Hände der Lebenden nach der teuren Gestalt,
greifen ins Nichts, der Schein erlischt —- wieder ist es dunkel und still.
Man kann sich
auch der Ver-
mittlung gewis-
ser Personen be-
dienen, wenn die
Sehnsucht nach
den Verlorenen
zu groß ist; diese
können die Gei-
ster herbeirufen.
Kniend warten
die Angehörigen,
die Beschwören-
de sitztregloswie
eine Tote, aber
nach kurzem War-
ten flüstern die
Stimmen der Er-
sehnten, und aus
der Dämmerung
des Raumes tau-
ch en sichtbar, wie
durchscheinend,
diegeliebtenZü-
ge, aber sie dür-
fen nicht lange
weilen — leise,
ab er verständlich
erfolgendieAnt-
worten auf die
zärtlichen Fra-
gen, und schon
sind sie wieder
verschwunden.
Eine junge
Mutter, deren
Sehnsucht nach
ihrem verstor-
benen Söhnchen
übergroßwurde,
begibt sich zu ei-
nem Priesterdes
Buddhatempels,
fleht ihn an, ih-
ren Knaben nur
für einige Au-
genblicke zurück-
zurufen. Lange
kniet der Prie-
ster in tiefer
Sammlung,
plötzlich sinkt er
wie leblos in sich
zusammen, denn
die Seele des
Knaben ist für
Augenblicke in
ihn eingegangen
Der Seemönch, der den Schiffern Unglück bringt / Nach einem Gemälde von Kuniyoshi
2. 1927