und die Mutter hört die Stimme ihres Kindes rufen: „Bitte, frage mich,
aber schnell, schnell, denn ich mutz zurück, datz ich nicht den Weg verliere
und von meinem Platze am Sai no Kawara, dem unterirdischen Strom,
verdrängt werde." Noch wenige, liebende Worte, die Stimme schwindet
wie im Windhauch dahin, der Priester liegt noch wie leblos, die Mutter
verlätzt den Tempel getröstet.
Eine für uns rätselhafte Tiefe mystischer Versenkung spricht hier zu uns,
eine ganz andere Einstellung zu den Fragen, die in den Abgründen mensch-
lichen Ahnens ruhen. Auf die Ursachen und Gründe dieser Erscheinungen
hier einzugehen, ist auf dem eng gezogenen Raum nicht möglich, es sei
daher auf das „Japanische Gespensterbuch" verwiesen, das bei der Union
Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart erschienen ist und das uns
in eine uns bis jetzt noch ganz unbekannte, packende phantastische Welt
einführt.
Zahllos sind die dort erzählten Geschichten, aber sie sind nicht wieder-
gegeben, um ein angenehmes Schauern und Gruseln zu erzeugen, nicht wie
Ammenmärchen. Man glaubt sie, weil sie aus Glauben und Empfinden
hervorgegangen sind. Denn dem mit feinen Sinnen begabten Ostasiaten
formen sich die geheimnisvollen Laute der Natur ungewollt von selbst zu
sehnsüchtigen Klängen, Seufzern, geflüsterten Worten, denen das Verlan-
gen des Herzens Sinn gibt.
Die besten volkstümlichen Künstler Japans, besonders die Holzschnitt-
meister der letzten Epochen, haben in ihren Werken oft hochkünstlerisch und
ergreifend diese Geister und Erscheinungen dargestellt. Um die dem „Ja-
panischen Gespensterbuch" entnommenen Abbildungen verständlicher zu
machen, sei kurz ihr Inhalt angedeutet.
In einem kleinen Orte, Hisaka, lebte ein junges Ehepaar, das in Bälde
ein Kind erwartete, als der junge Gatte eine längere Reise antreten mutzte.
Eines Nachts überfielen zwei Räuber die einsame Frau und wollten sie
zwingen, ihnen zu Willen zu sein; sie aber wollte lieber sterben als dem
Gatten untreu sein und fiel unter den Schwertern der Bösewichte. Da sie
aber stets fromm und besonders der allbarmherzigen Göttin Kwannon treu
ergeben war, erschien diese ihr im Todeskampf, gab ihrem ungeborenen
Knaben Leben und schützte ihn. Indessen hatte der Mann in der Ferne un-
ruhige Träume, zuletzt hörte er deutlich das leise Weinen eines Kindes, das
ihn aus dem Schlaf schreckte. Er eilte zurück, es war schon spät in der Nacht,
als er nahe bei Hisaka war, wo er vor sich am Wege eine Gestalt zu sehen
meinte. Rasch schritt er vorwärts und erkannte seine Frau, die ihm blatz
und mit schmerzverzerrtem Gesicht entgegenwankte. Er wollte sie in die
Arme schließen, aber er griff in die Luft, und mit schwacher Stimme kla-
gend, erzählte ihm die Erscheinung ihren Tod, die Ankunft ihres Knaben
und nannte die Namen ihrer Mörder. Als der Mann in seinem Haus an-
langte, fand er auf dem verlassenen Lager einen Knaben, der ihn anlächelte.
Noch oft erschien die Frau nachts, von Liebe zu Gatten und Kind zurück-
gezogen, um sie vor Gefahren zu warnen.
Einer der begabtesten unter den Holzschnittmeistern, Kuniyoshi, hat eine
Reihe Gespensterbilder geschaffen, die in dem Reichtum künstlerischer Er-
findung und Phantastik alles übertreffen, was Europa auf diesem Gebiet
geleistet hat. Eine junge Mutter, die bei der Geburt ihres Kindes starb,
kehrt nachts auf das Dach ihres Hauses zurück und lauscht, ob sie nicht die
Stimmen ihrer zurückgebliebenen Angehörigen hört, denn'neunundvierzig
Tage darf der Geist des Toten noch an der Stätte des Lebens weilen.
In jenen dunklen, sternenlosen Nächten, in denen der Sturm wütet
und die Menschen ängstlich im schützenden Obdach sich bergen, taucht in der
Luft dahinsausend ein fahl leuchtendes Totenantlitz mit wutverzerrten
Zügen auf, die langen schwarzen Haare wie Windesflügel wehend. Es ist
ein ruheloser Geist, der kein Grab gefunden hat, oder einer, der ungerächt
sterben mutzte und nun an seinem Feinde Rache nehmen will.
Besonders merkwürdig sind die
geschichtlichen Überlieferungen von
Helden und großen Staatsmännern,
die für ihre selbstlose Treue, für to-
desmutige Hingabe für ihren Herr-
scher nur Undank ernteten, ihrer
Güter beraubt, von falschen Neben-
buhlern verdrängt, in die Wildnis
zulebenslänglicher Verbannung ge-
trieben w urd e n. Na ch ih r em To d e er-
scheinen siealsGeisterzuübermensch-
licher Grütze gewachsen und treffen
mit dem Blitzstrahl der Rache ihre
Feinde. Diese Schicksalsgeschichten
finden nicht nur im Wort, sondern
auch in Bildern einen unheimlich
packenden Ausdruck.
Freilich muten uns diese Bilder
zuerst fremd, bizarr und unverständ-
lich an, dann erweckt die oft groß-
artig kühne Phantasie des japani-
schen Künstlers, mit der er diesen
Gestalten einer anderen Welt Form
gibt, unsere Bewunderung. Lernen
wir schließlich den Inhalt dieser
Kunstwerke kennen, so öffnet sich für
uns das Tor zu einer reichen Welt,
voll von neuen, eigenartigen Ge-
sichtspunkten. Denn nicht ruhig und
gleichmäßig kann der Mensch auf
dem fernen Jnselreich Japans der
Natur v ertrauen, sie ist voller G egen-
sätze, wunderbare Schönheit der
Landschaft, die herrlichsten Bäume
und Blumen auf der einen Seite,
grausam vernichtende Gewalten,
Erdbeben, Vulkane, Springfluten
und Wirbelstürme auf der anderen.
Sie zwingen den Menschen auf die
Knie vor dem Unsichtbaren, den
dunklen Mächten, er sieht in ihnen
überirdische Gestalten, halb Götter,
halb Dämonen, die in jenem Zwi-
schenreich zwi s ch en Himm ei und Erd e
ihr Wesen treiben. Zahllos sind jene
unheimlichen, geisterhaften Unholde,
die dem Menschen schaden können,
in Bergen und Wäldern Hausen, des
Nachts in Teufelsgestalt auf den
Der Geist von Hisaka / Nach einein Gemälde von Toyokuni II.