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Das Buch

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Heft 2

Dächern lärmen oder in Tiergestalt Unheil stiften. Die Furcht vor den
Rätseln einer dunklen Sturmnacht spricht aus den Zeilen eines Dichters:
Es erhob sich ein wunderbarer Wind;
Der entsprach nicht dem Geheul des Tigers.
War's etwa Drachengewinsel?
Viel wunderbare Wesen sind in Gewässern und Bergen verborgen.
Da, in dem Dunst des klagenden Windes, ein Paar Augen
Wie glühende Lichter im trüben Nebel,
In der dichten Masse des schwarzen Hauches gewahrt man vier Krallen,
Undeutlich wie eiserne Haken starren sie aus dem purpurnen Gewölkhervor.
Ein dämoni¬
sches Wesen ist
dieneunschwän¬
zige Füchsin,die
in der sagenhaf¬
ten Geschichte
Japans und
Chinas eine
wichtige Rolle
spielt als stra¬
fendes Werk¬
zeug des Him¬
mels. Auf Be¬
schlus; der Göt¬
ter nimmt sie
die Gestalt eines
zauberhaft schö¬
nen Mädchens
an, um den letz¬
ten entarteten
Sprotzeines chi¬
nesischen Herr¬
schergeschlechts
zu betören und
mit seinemV Li¬
tz erb en auch den
Untergang sei-
nesHauses her¬
beizuführen.
Krieger ver¬
folgten jedoch
das Gespenst,
das des Kaisers
Leben aufzu¬
saugen drohte,
bis weit in die
öde Heide, wo
sie es einholten
und töt et en. Der
Körper ver¬
schwand, an sei-
nerStellesahen
sie einen schwar¬
ten Stein in
roher Gestalt
eines Fuchses.
Seitdem konnte
niemand mehr
die Heidebetre¬
ten, denn wer
den Stein ansah, starb. Nach Jahren kam ein Mönch, schlug mit seinem
Stab an den Stein, daß er zersprang, und der Zauber war gebrochen.
Das Meer ist bevölkert von Spukgestalten, so erscheint der finstere See-
mönch ähnlich unserem Klabautermann dem Seemann, der an einem un-
heilbringenden Tag ausgefahren ist, drohend auf dem Kamm der hohen
Wellen, die Verderben bringen. Das Bild des genialen Kuniyoshi zeigt
den unerschrockenen Seehelden, Kawanaya Tokuso, der am 1. Dezember,
einem Unglückstag, ausfuhr. Schon droht der Seemönch, das Schiff scheint
im Abgrund versinken zu müssen, und das Gespenst brüllt den Seefahrer
an: „Sage mir, Kawanaya, was ist das Schrecklichste auf dieser Welt?"
Furchtlos antwortet Kawanaya mit Donnerstimme, die Wellen über-
tönend: „Mein Beruf ist das Schrecklichste." Da neigten sich die Wellen,
der Seemönch tauchte unter und verschwand.
Mit den ältesten, ebenfalls aus China nach Japan gekommenen religiösen
Urvorstellungen ist auch die Gestalt des Drachen verknüpft, aber nicht als
ein Prinzip des Bösen, der Finsternis, sondern als geheimnisvolles Symbol
des Schaffens und Werdens, zugleich Sinnbild kaiserlicher Würde und
Gewalt und geistiger Hoheit.

Die Drachen bewohnen den Grund des Meeres oder tiefer Seen. Die
älteste, noch ganz mythische Geschichte Japans erzählt vom Drachen-
herrscher; viele hochpoetische Sagen schildern das Zauberschloß des Drachen
im Wogengrund mit seinen glänzenden Festen und die wunderbaren Aben-
teuer irdischer Helden mit den schönen Drachenprinzessinnen.
Einem anderen Bild liegt folgende Geschichte zugrunde. Zur Zeit
Kaiser Shujakus ums Jahr 939 empörte sich einer der japanischen Großen
aus dem mächtigen Fürstenhaus der Taira, Masakato, gegen den Kaiser.
Tawaratoda, Statthalter von Shimotzuke, wurde gegen den Rebellen ge-
sandt und besiegte ihn. Masakato stürzte schwerverwundet vom Pferd.
Tawaratoda
hieb ihm eigen-
händig das
Haupt ab, um
es seinem Kai-
ser zu Füßen zu
legen. Eilig zog
er zur Haupt-
stadt. Als er die
Brücke vonSe-
ta am Biwasee
überschreiten
wollte,versperr-
te ein riesiger
Drache,derquer
über der Brücke
lag, den Weg.
Furchtlos über-
schritt Tawara-
toda den Dra-
chen und zog
weiter. Da ver-
nahm er hinter
sich eine sanft
klagende Stim-
me; als er sich
wandte, zeigte
sich ihm ein
wunderbar schö-
nes Mädchen,
das ihm zurief,
es sei Otohime,
die Tochter des
Drachenköuigs
vom Biwasee
und warte in
Drachengestalt
auf einen uner-
schrockenenHel-
denzurRettung
aushöchsierNot;
derriesige Tau-
send fußMukade
sei der grim-
migste Feind
des Drachenge-
schlechts und
habe schon zwei
Brüder getötet
und aufgefres-
sen, nun sei sie das nächste Opfer des Ungeheuers, wenn nicht ein tapferer
Held sie errette. Tawaratoda folgte ihr nun in den Palast ihres Vaters und
erwartete dort die Nacht. Bald erschien der Mukade, seine Augen sprühten
Feuer, sein Leib leuchtete wie Phosphor, und ein ungeheurer Schwanz
ringelte sich viermal um den Berg Mikamiyama. Mit seinem nie fehlenden
Bogen und Pfeil erlegte der Held das Ungeheuer und verließ, von dem
dankbaren Drachenkönig reich beschenkt, den Palast.
Viele dieser verklingenden Sagen, die teilweise nur noch in einsamen,
entlegenen Dörfern beim Volke weiterleben, sind die letzten schwindenden
Spuren eines alten kindlichen Glaubens, und all diese Schattengestalten
der Geister, Dämonen; Kobolde sind nur Bekenntnisse seelischer Nöte,
hilfloser Sehnsucht nach Lösung und Befreiung aus dunklen Zweifeln und
Fragen, an denen wir allmählich vorüberzug eh en gelernt haben. Noch ist
die Natur für den Ostasiaten reich und erfüllt von tiefen Beziehungen des
Menschen zur Welt, die ihn umgibt; Berge, Ströme, die Bäume mit ihrem
Rauschen haben noch ein inneres Leben und tiefen Sinn, und diese reiche
Welt ursprünglicher, noch ungekünstelter Phantasie wird für uns ein Quell
neuer Gedanken und tiefer Anregung.

Das harmlose Gespenst / Nach einer Zeichnung von Hiroshige
 
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