Heft 2
Das Buch für Alle
45
Ein Blick in die Unendlichkeit / Don Alwin Oreßler
^^>er kennt wohl nicht den friedlichen Zauber, den uns der Anblick des
(^^nächtlichen Himmels mit seinen funkelnden Sternen bietet? Und
messen Herz fühlte nicht schon ein wundersames Verlangen, dieses tiefe
Geheimnis dort oben mit klarem Blick zu erfassen? — Aber die Sterne
schweigen und erzählen uns nichts von den gewaltigen Entfernungen, die
sie oft Jahrmillionen voneinander trennen.
Es wird uns gewiß interessieren, einmal die Eindrücke zu erleben, die
wir gewinnen, wenn wir uns die Größe des Universums genauer veran-
schaulichen. Um uns eine richtige Vorstellung von seinen gewaltigen Tiefen
machen zu können, müssen wir aber zunächst die Größe unserer Sonnen-
provinz näher kennenlernen.
Gewaltig wachsen die Entfernungszahlen, wenn wir die Geschwister
unserer Erde aufsuchen, die wie die Erde als Planeten um die Sonne wan-
dern. Die geringste Entfernung, die uns von dem uns am nächsten stehenden
Planeten, der Venus, trennt, beträgt vierzig Millionen Kilometer, eine
Entfernung, die bereits hundertviermal so groß ist wie der Raum zwischen
Erde und Mond. Die elektrischen Wellen, die bekanntlich mit der Geschwin-
digkeit des Lichtes rund dreihunderttausend Kilometer in der Sekunde zu-
rücklegen, würden zwei Mi¬
nuten fünfzehn Sekunden
Zeit beanspruchen, um zu
unserer Nachbarin zu gelan¬
gen; zweiundfünfzig Jahre
hätte ein Eilzug ununter¬
brochen zu fahren, um selbst
beider nächsten Entfernung
dieserbeidenPlanetenihren
Raum zu überbrücken. Aber
die Sonne selbst ist schon
wieder fast viermal weiter
von uns entfernt; hundert¬
neunzig Jahre führe der
Schnellzug, acht Minuten
zwanzig Sekunden wogten
die elektrischenWellen, denn
hundcrtfünfzig Millionen
Kilometer sind zu durch¬
messen.
Diese Entfernung ist aber
nur ein Katzensprung im
astronomischen Sinne, und
selbst in unserer Heimat im
Weltenraumbedeutetsienur
eine Schrittlänge im Ver¬
gleich zur ungeheuren Aus¬
dehnung unserer Sonnen¬
provinz. Fünfeinhalbmal
größer als die Entfernung Erde—Sonne ist der Raum, der unseren größten
Bruder, den Jupiter, von uns trennt; fast zehnmal ferner als die Sonne
kreist der ringgeschmückte Saturn seine Bahn, aber bis zum Uranus ist es
noch einmal so weit. Zweitausendsiebenhundert Millionen Kilometer liegen
zwischen diesem und der Erde, wenn er uns am nächsten steht; etwa drei-
tausendfünfhundert Jahre hätte ein Eilzug Tag und Nacht zu fahren,
und selbst der gedankenschnelle Flug der Depesche würde zweieinhalb
Stunden währen, bis eine Verbindung zwischen uns und dem Uranus
hergestellt wäre.
Aber mit diesem Planeten ist die Grenze unseres Sonnensystems noch
nicht erreicht. Hinter weiten, von Kometen und Sternschnuppen durch-
messenen Räumen treffen wir endlich den Grenzwächter unserer Sonnen-
provinz, unseren trägen Bruder Neptun an, den rund viertausendfünf-
hundert Millionen Kilometer von der Sonne trennen, die er in etwa
hundertvierundsechzig Jahren einmal umkreist. Die Sonne erscheint ihm
dort nur noch als ein zusammengeschrumpftes Pünktchen, und von unserer
Erde ist längst jede Spur verweht. Würden wir ihn besuchen, so würde
unsere telegraphische Anmeldung vier Stunden brauchen, und unserEilzug
würde fast fünftausendsiebenhundert Jahre zu fahren haben, um zu ihm
zu gelangen.
So ungeheuerlich groß uns diese Entfernung auch erscheint, so besagt
sie doch nichts mehr, als daß wir uns immer noch in „unserer Heimat"
befinden und sozusagen noch in der Ferne den Turm unseres Dorfkirchleins
sehen. Und blickten wir vom Neptun hinauf zum Himmel, so würden wir
noch immer die Sternbilder in ihrer alten Gestalt auf uns leuchten sehen,
denn so wenig hätte sich trotz unseres veränderten Standpunktes die Per-
spektive geändert.
Wir stehen nun an der Grenze unseres Sonnensystems, aber das Uni-
versum wimmelt von solchen Sonnenprovinzen, wenn auch gewaltige
Räume zwischen ihnen liegen, deren Entfernungen kaum noch in Kilometer-
zahlen ausgedrückt werden können. Genaue Messungen beweisen uns, daß
sich die Sterne trotz ihrer scheinbaren Ruhe am Himmel mit einer Riesen-
geschwindigkeit von mehreren tausend Kilometern in der Minute fort-
bewegen, also mit einer Schnelligkeit, die mehrere tausendmal größer ist
als die eines Eilzuges. Jedoch sind die Entfernungen der Sterne unter
sich so ungeheuer, daß sie trotz ihrer schnellen Bewegung scheinbar still-
stehen und erst nach vielen Jahrtausenden, von uns aus gesehen, um eine
Vollmondsbreite am Himmel weitergerückt sind.
Auch unsere Sonne durchfliegt als ein solcher Fixstern den Himmels-
raum, indem sie alle Planeten, Kometen und Meteorschwärme ihrer Pro-
vinz mit sich zieht. Wohin dieser rasend schnelle Flug führt, was uns diese
Reise dereinst bringen wird, ob einen Zusammenstoß mit einer anderen,
vielleicht ungeheuer viel größeren Sonne oder das langsame Absterben
eines alternden Systems mit
d em allmählich en Verlösch en
seines Lebensguells, das
alles wissen wir nicht.
Es ist uns auch bekannt,
daß die Gestirne nach ganz
verschiedenen Richtungen
den Raum durcheilen und
daß sie, von unserer Ee-
sichtslinie aus betrachtet, zu
Sternbildern gruppiert, also
scheinbar zusammengehörig
beieinanderstehend, inWahr-
heit durch ganz gewaltige
Zwischenräume voneinan-
der getrennt sind.
Nur wenige Sterne stehen
unserem Sonnensystem so
nahe, daß wir ihre Entfer-
nung mit Genauigkeit an-
zugeben wissen. Unserer
Sonne nächsterNachbar, der
Alpha Eentauri in: Stern-
bild des Centaur, liegt rund
einundvierzig Billionen Ki-
lometer von ihr entfernt,
eine Strecke,diedasLichtbe-
ziehungsweisedle elektrischen
Wellen erst nach 4,3 Jahren
zu durchmessen imstande sind. Nehmen wir zum Beispiel an, daß die
Sonne von uns nicht weiter entfernt wäre als eines unserer Augen
vom anderen (also etwa sechs Zentimeter), und rechnen wir aus, wie weit
im gleichen Maßverhältnis dann der Eentauri von unserem Auge entfernt
sein müßte, so würden wir finden, daß es über sechzeyn Kilometer sind.
Wäre also die Sonne nur sechs Zentimeter von uns entfernt, so betrüge
die Entfernung zwischen uns und dem Alpha Eentauri über sechzehn Kilo-
meter. Und dieser Stern ist unserer Sonne Nachbar!
Andere Firsterne sind hingegen hundertmal und noch viel weiter ent-
fernt als er. Jene Sterne, die wir gerade noch mit freiem Auge erkennen
können und welche die Astronomen Sterne sechster Größe nennen, sind
rund dreihundertdreißig Lichtjahre entfernt; die Sterne achter Größe
trennen etwa siebenhundertachtzig Lichtjahre von unserer Heimat, während
jene winzigen Sternchen, deren Gesamtheit nur im matten Schimmer der
Milchstraße erkennen, schätzungsweise etwa viertausend Lichtjahre von
unserem Ort im Weltgebäude entfernt liegen. — Ein Lichtjahr ist eine
Strecke von neuneinhalb Billionen Kilometer, die das Licht in einem Jahr
zu durcheilen imstande ist.
Wir können solche Weiten im Universum ebensowenig begreifen, wie das
Jnfusor im Wassertropfen die Größe des Ozeans begriffe. Aber wenn
wir wirklich bis zu den Sternen der Milchstraße vorgedrungen wären, so
hätten wir abermals die Grenze eines mächtigen Komplexes erreicht, wie
wir früher die Grenze unseres unendlich viel kleineren Sonnensystems
erreicht hatten.
Schauen wir auf der Milchstraße um uns: dieses gewaltige Band, das
Kopernikus, der weltbekannte Astronom / Nach einem Gemälde von Matejko
Das Buch für Alle
45
Ein Blick in die Unendlichkeit / Don Alwin Oreßler
^^>er kennt wohl nicht den friedlichen Zauber, den uns der Anblick des
(^^nächtlichen Himmels mit seinen funkelnden Sternen bietet? Und
messen Herz fühlte nicht schon ein wundersames Verlangen, dieses tiefe
Geheimnis dort oben mit klarem Blick zu erfassen? — Aber die Sterne
schweigen und erzählen uns nichts von den gewaltigen Entfernungen, die
sie oft Jahrmillionen voneinander trennen.
Es wird uns gewiß interessieren, einmal die Eindrücke zu erleben, die
wir gewinnen, wenn wir uns die Größe des Universums genauer veran-
schaulichen. Um uns eine richtige Vorstellung von seinen gewaltigen Tiefen
machen zu können, müssen wir aber zunächst die Größe unserer Sonnen-
provinz näher kennenlernen.
Gewaltig wachsen die Entfernungszahlen, wenn wir die Geschwister
unserer Erde aufsuchen, die wie die Erde als Planeten um die Sonne wan-
dern. Die geringste Entfernung, die uns von dem uns am nächsten stehenden
Planeten, der Venus, trennt, beträgt vierzig Millionen Kilometer, eine
Entfernung, die bereits hundertviermal so groß ist wie der Raum zwischen
Erde und Mond. Die elektrischen Wellen, die bekanntlich mit der Geschwin-
digkeit des Lichtes rund dreihunderttausend Kilometer in der Sekunde zu-
rücklegen, würden zwei Mi¬
nuten fünfzehn Sekunden
Zeit beanspruchen, um zu
unserer Nachbarin zu gelan¬
gen; zweiundfünfzig Jahre
hätte ein Eilzug ununter¬
brochen zu fahren, um selbst
beider nächsten Entfernung
dieserbeidenPlanetenihren
Raum zu überbrücken. Aber
die Sonne selbst ist schon
wieder fast viermal weiter
von uns entfernt; hundert¬
neunzig Jahre führe der
Schnellzug, acht Minuten
zwanzig Sekunden wogten
die elektrischenWellen, denn
hundcrtfünfzig Millionen
Kilometer sind zu durch¬
messen.
Diese Entfernung ist aber
nur ein Katzensprung im
astronomischen Sinne, und
selbst in unserer Heimat im
Weltenraumbedeutetsienur
eine Schrittlänge im Ver¬
gleich zur ungeheuren Aus¬
dehnung unserer Sonnen¬
provinz. Fünfeinhalbmal
größer als die Entfernung Erde—Sonne ist der Raum, der unseren größten
Bruder, den Jupiter, von uns trennt; fast zehnmal ferner als die Sonne
kreist der ringgeschmückte Saturn seine Bahn, aber bis zum Uranus ist es
noch einmal so weit. Zweitausendsiebenhundert Millionen Kilometer liegen
zwischen diesem und der Erde, wenn er uns am nächsten steht; etwa drei-
tausendfünfhundert Jahre hätte ein Eilzug Tag und Nacht zu fahren,
und selbst der gedankenschnelle Flug der Depesche würde zweieinhalb
Stunden währen, bis eine Verbindung zwischen uns und dem Uranus
hergestellt wäre.
Aber mit diesem Planeten ist die Grenze unseres Sonnensystems noch
nicht erreicht. Hinter weiten, von Kometen und Sternschnuppen durch-
messenen Räumen treffen wir endlich den Grenzwächter unserer Sonnen-
provinz, unseren trägen Bruder Neptun an, den rund viertausendfünf-
hundert Millionen Kilometer von der Sonne trennen, die er in etwa
hundertvierundsechzig Jahren einmal umkreist. Die Sonne erscheint ihm
dort nur noch als ein zusammengeschrumpftes Pünktchen, und von unserer
Erde ist längst jede Spur verweht. Würden wir ihn besuchen, so würde
unsere telegraphische Anmeldung vier Stunden brauchen, und unserEilzug
würde fast fünftausendsiebenhundert Jahre zu fahren haben, um zu ihm
zu gelangen.
So ungeheuerlich groß uns diese Entfernung auch erscheint, so besagt
sie doch nichts mehr, als daß wir uns immer noch in „unserer Heimat"
befinden und sozusagen noch in der Ferne den Turm unseres Dorfkirchleins
sehen. Und blickten wir vom Neptun hinauf zum Himmel, so würden wir
noch immer die Sternbilder in ihrer alten Gestalt auf uns leuchten sehen,
denn so wenig hätte sich trotz unseres veränderten Standpunktes die Per-
spektive geändert.
Wir stehen nun an der Grenze unseres Sonnensystems, aber das Uni-
versum wimmelt von solchen Sonnenprovinzen, wenn auch gewaltige
Räume zwischen ihnen liegen, deren Entfernungen kaum noch in Kilometer-
zahlen ausgedrückt werden können. Genaue Messungen beweisen uns, daß
sich die Sterne trotz ihrer scheinbaren Ruhe am Himmel mit einer Riesen-
geschwindigkeit von mehreren tausend Kilometern in der Minute fort-
bewegen, also mit einer Schnelligkeit, die mehrere tausendmal größer ist
als die eines Eilzuges. Jedoch sind die Entfernungen der Sterne unter
sich so ungeheuer, daß sie trotz ihrer schnellen Bewegung scheinbar still-
stehen und erst nach vielen Jahrtausenden, von uns aus gesehen, um eine
Vollmondsbreite am Himmel weitergerückt sind.
Auch unsere Sonne durchfliegt als ein solcher Fixstern den Himmels-
raum, indem sie alle Planeten, Kometen und Meteorschwärme ihrer Pro-
vinz mit sich zieht. Wohin dieser rasend schnelle Flug führt, was uns diese
Reise dereinst bringen wird, ob einen Zusammenstoß mit einer anderen,
vielleicht ungeheuer viel größeren Sonne oder das langsame Absterben
eines alternden Systems mit
d em allmählich en Verlösch en
seines Lebensguells, das
alles wissen wir nicht.
Es ist uns auch bekannt,
daß die Gestirne nach ganz
verschiedenen Richtungen
den Raum durcheilen und
daß sie, von unserer Ee-
sichtslinie aus betrachtet, zu
Sternbildern gruppiert, also
scheinbar zusammengehörig
beieinanderstehend, inWahr-
heit durch ganz gewaltige
Zwischenräume voneinan-
der getrennt sind.
Nur wenige Sterne stehen
unserem Sonnensystem so
nahe, daß wir ihre Entfer-
nung mit Genauigkeit an-
zugeben wissen. Unserer
Sonne nächsterNachbar, der
Alpha Eentauri in: Stern-
bild des Centaur, liegt rund
einundvierzig Billionen Ki-
lometer von ihr entfernt,
eine Strecke,diedasLichtbe-
ziehungsweisedle elektrischen
Wellen erst nach 4,3 Jahren
zu durchmessen imstande sind. Nehmen wir zum Beispiel an, daß die
Sonne von uns nicht weiter entfernt wäre als eines unserer Augen
vom anderen (also etwa sechs Zentimeter), und rechnen wir aus, wie weit
im gleichen Maßverhältnis dann der Eentauri von unserem Auge entfernt
sein müßte, so würden wir finden, daß es über sechzeyn Kilometer sind.
Wäre also die Sonne nur sechs Zentimeter von uns entfernt, so betrüge
die Entfernung zwischen uns und dem Alpha Eentauri über sechzehn Kilo-
meter. Und dieser Stern ist unserer Sonne Nachbar!
Andere Firsterne sind hingegen hundertmal und noch viel weiter ent-
fernt als er. Jene Sterne, die wir gerade noch mit freiem Auge erkennen
können und welche die Astronomen Sterne sechster Größe nennen, sind
rund dreihundertdreißig Lichtjahre entfernt; die Sterne achter Größe
trennen etwa siebenhundertachtzig Lichtjahre von unserer Heimat, während
jene winzigen Sternchen, deren Gesamtheit nur im matten Schimmer der
Milchstraße erkennen, schätzungsweise etwa viertausend Lichtjahre von
unserem Ort im Weltgebäude entfernt liegen. — Ein Lichtjahr ist eine
Strecke von neuneinhalb Billionen Kilometer, die das Licht in einem Jahr
zu durcheilen imstande ist.
Wir können solche Weiten im Universum ebensowenig begreifen, wie das
Jnfusor im Wassertropfen die Größe des Ozeans begriffe. Aber wenn
wir wirklich bis zu den Sternen der Milchstraße vorgedrungen wären, so
hätten wir abermals die Grenze eines mächtigen Komplexes erreicht, wie
wir früher die Grenze unseres unendlich viel kleineren Sonnensystems
erreicht hatten.
Schauen wir auf der Milchstraße um uns: dieses gewaltige Band, das
Kopernikus, der weltbekannte Astronom / Nach einem Gemälde von Matejko