Das Buch für Alle
Heft Z
nichts gelernt und nichts vergessen hat, durch und durch der Typ
des feudalen russischen Grand-Seigneurs, so kam Sergei Wladi-
mirowitsch in die Tür.
„Ah, du hast Besuch." Ein ganz kleines Heben der Brauen,
das so etwas wie Erstaunen ausdrückte, denn Elena hatte niemals
Damenbesuch, und dann: „Diese Zöpfe sollte ich doch kennen.
Es gab einmal eine kleine Dame, die den Namen der Himmels-
königin führte. Die schlug um sich wie ein Pantherkätzchen, wenn
man sagte: ,Rot ist dein Haar/"
„Eine große Ehre für mich, daß Sie es nicht vergessen haben,
Sergei, es ist auch immer noch rot."
„Es ist wie goldene Bronze, über die roter Wein hingelaufen ist."
„Er kann immer noch hübsche Komplimente drechseln, Elena."
„Und Sie sind hierher gekommen mit der Tante Jnnozentia,
der gestrengen alten Hoheit? Wollen Sie Venedig besehen?"
Ärmlich muß es ihnen gehen, kalkulierte er im stillen. Mein Gott,
die Sachen müssen geradeswegs aus einem Warenhause stammen.
„Die Tante ist tot," sagte Elena, ehe Maria antworten konnte.
„Das Kind haben sie in ein Kloster tun wollen. Da ist sie lieber
hierher gefahren zu uns."
„Ta ta. So selbständig? Ja, die Zeit hat unsere Damen viel
gelehrt. Möchte es Ihnen in unserem ärmlichen Heim gefallen,
liebe Schwägerin."
„Wir wohnten in Wien auch schon lange nicht mehr im Palais.
Die Tante mußte heraus. Das war Volkseigentum, sagte man.
Und wir hatten eine kleine Wohnung in einem alten Kasten in der
Vorstadt, sieben Stuben, ja, und alle so niedrig. Und nur noch
zwei Domestiken. Und —" Ein sanftes Lachen. „Das ist nun
vergangen. Ich habe mein Bestes gefunden, meine geliebte
Schwester. Und nicht einmal hat sie uns von Rumänien aus ge-
schrieben, wie traurig sie es da hatte — nur daß sie fremdes Brot
essen müßte und daß es bitter schmeckte. Wie gut, daß Sie sie
dort fanden und fortnahmen, Sergei."
„Ja ja. Direkt aus dem Konzentrationslager in Japan kam ich.
Uber London. Und konnte lange forschen und fragen, bis ich er-
fuhr, wer sich als Baronin Biron in Bukarest von einer alten
Tatarin kujonieren ließ. Aber dann das Glück — meine Liebe?"
„Ja," sagte die Frau, und ihre Augen strahlten auf.
Mein Gott, er war ein ganz leichtsinniger Bruder. Er war, wie
sie alle in Petersburg gewesen, die auf dem Vulkan tanzten und
das Feuer nicht ahnen wollten, das schon aus allen Ritzen züngelte.
Aber er riß mit seiner persönlichen Liebenswürdigkeit immer
wieder die Menschen in seinen Bann, sosehr sie ihn kannten. Und
wer kannte ihn so genau wie seine Frau? — Irgendwo, vielleicht
unten in der Halle
schlug eintz Uhr mit
langen dröhnenden
Schlägen acht.
„Es ist höchste Zeit
für das Th eater," sagt e
der Mann. „Du bist
fertig, meine Herrin?
Sind Sie sehr böse,
verehrte Schwägerin,
wenn wir Sie am er¬
sten Abend verlassen?
Aber die Loge ist be¬
stellt, und es handelt
sich um ein Zusam¬
mentreffen mit — hm
— Geschäftsfreunden.
O ja, wir sind alle sehr
geschäftstüchtig ge¬
worden, wir Herren
vom Parkett. Es wird
viel Wert darauf ge¬
legt, daß Elena mich
begleitet, daß ich nicht
nur so ganz von oben
her mit den Leuten verkehre. PeinlicheZugeständnisse an inferiore
Menschen, aber was will man machen? Und Sie sind sicher müde
von der langen Reise?"
„Ach, Sergei, sei gut. Kann ich nicht bleiben? Denk' doch, Maria
hier so allein in dem alten unheimlichen Hause."
„Sie wird Schlimmeres durchgemacht haben als ein paar
Stunden in einem warmen Zimmer mit Giulietta als Bedienung
für etwaige Wünsche."
Seine Worte klangen verbindlich, aber in den Augen war ein
Drohen. Maria erinnerte sich plötzlich, wie er einmal, damals vor
der Hochzeit, einen Reitknecht so angesehen hatte, der ihm den
Steigbügel nicht richtig gehalten. Der Mann war ganz blaß ge-
worden und hatte die Schultern zusammengezogen, als spüre er
schon den Schlag der Gerte, die sein Herr in der Hand hielt. Sie
hatte Sergei gefürchtet von dem Augenblick an. Und nun sah er
seine Frau an mit diesen Augen — großer Gott.
„Also dann —" Elena drückte auf eine zierliche Klingel, die
auf dem Toilettentisch stand — „Giulietta—den Theatermantel.
Und sorge gut für die Baronesse. Und daß du nicht nach unten
läufst, o ich weiß, du witschst immer um die Treppe herum. Da
hast du nichts zu suchen. Du bleibst hier oben. Wenn Herrschaften
kommen, ehe wir zurück sind — Du hast dich nicht darum zu
kümmern."
„Nein, nein, Frau Baronin."
Die Kleine stand mit niedergeschlagenen Augen.
„Was Elena nur für lange Reden hält," dachte Maria. „Ob das
Mädchen hier oben ist in meiner Nähe oder nicht — ich bin nicht
ängstlich." Und sie küßte die Schwester herzlich zum Abschied.
„Lege dich hin, Liebes. Ich sehe zu dir hinein, wenn ich komme.
Es ist hier still auf unserer Seite. Sergei hat seine Zimm er drüben,
der stört uns nicht, wenn er noch spät Besuch hat. Schlafe wohl."
aria war allein. Sie hatte sich auf das Bett gelegt, das
man ihr im kleinen Vorzimmer bereitet, dort, wo sich die
Loggia vor den Fenstern hinzog, sie hatte Giulietta fortgeschickt,
nun lag sie und suchte vergebens den Schlaf.
Die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden tanzten
vor ihrem überreizten Gehirn. So viele Gesichter, so viele Ge-
räusche, Rasseln von Eisenbahnen, Lärmen auf überfüllten Per-
rons, drohende Stimmen, die Dinge von ihr wollten, vor denen
sie sich fürchtete. Sie scheuchte das alles fort und dachte: „Elena.
Ich bin bei dir. Bei dir, Elena." Und spürte eine Leere und eine
Enttäuschung tief im Herzen.
Erfüllung und Hoffnung haben verschiedene Gesichter. Sie
mußte es schmerzhaft
erkennen. Aber war
die Schwester nicht
voll Liebe gewesen?
Hatte sie sie nicht in
die Arme genommen
und zärtlich geküßt?—
Ja, ja — aber zuerst,
was war das da ge-
wesen? Und wenn es
nur eine Sekunde ge-
wesen, in jener ersten
Sekunde war sie nicht
erfreut gewesen, nur
schwer erschrocken. Der
Eindruck haftete zu
stark in Marias Hirn.
War sie den beiden
eine Last? Hatten sie
Sorgen? Es sah nicht
so aus. Wenn auch das
Haus schlimm war, so
von außen, und die
ganze Gegend, aber
hier drinnen war es
Vom Himmel hoch, da komm' ich her / Künstlerische Aufnahme vom Atelier Elisabeth in München