Heft Z
56
Das Buch für Alle
Baedeker in der Hand, und lasen mit lauter Stimme die Sehens-
würdigkeiten herunter. Aber es waren ihrer nicht allzu viele, der
kalte Frühling hatte die Leute im Norden abgeschreckt.
Maria war in Venedig gewesen im Jahre vor dem großen
Krieg. Damals ein dreizehnjähriges Mädchen, hatte sie die Er-
läuterungen der Erzieherin als notwendige Pein empfunden, und
allzuviel war nicht haften geblieben in ihrem Gedächtnis. Aber
der Tausende von Tauben erinnerte sie sich, und derMarkuskirche,
vor der sie gefragt hatte: „Ist das ein Theater oder ein Zirkus?"
So heidnisch war ihr die gold- und farbengeschmückte Front
erschienen.
Jetzt lenkte sie den Fuß hinüber und trat ein.
Jmm rr hatte das Dämmern der Kirchen eine große Macht über
ihre Stimmung gehabt, obgleich sie — ein fröhliches Weltkind —
nie kirchlich gewesen war. Ihre Mutter, die zweite Frau ihres
Vaters, war eine kleine deutsche Prinzessin gewesen, die darauf
bestanden, ihrem einzigen Kinde den protestantischen Glauben
ihrer Familie zu geben. Und der Vater, der immer noch an der
ersten Gattin hing, war diesem Kinde gegenüber zu gleichgültig
gewesen, um ihr Schwierigkeiten zu machen. Aber Maria war
in den katholischen Kirchen so heimisch gewesen wie in den prote-
stantischen, und die gütige Gottesmutter und die lieben Heiligen
waren ihr vertraute Freunde, wenn sie auch nicht gerade an-
betend die Hände zu ihnen hob.
Wie es durch das Dunkel der Säulenhalle überall von den
Wänden und Kuppelbogen her aufglänzte! Wie die hohen Ge-
stalten der Jünger und Märtyrer, seit Hunderten von Jahren in
ihrer gleich en Leuchtkraft, aus Tausenden von winzigen Steinchen
zusammengesetzt, still in den Raum hineinschauten!
Am Altar wölkte sich Weihrauch. Gesang kam leise herab vom
Chor, Knabenstimmen stiegen an und sanken sanft wieder hinweg,
sie konnte den lateinischen Sang nicht verstehen. Nur den Dank
im eigenen Herzen, der sie Hierherein getrieben, den verstand sie.
Erlöst aus der lieblosen Haft langer Jahre war sie zurückgekommen
zu dem einzigen Herzen, das ihr gehörte. Und weit und groß lag
das Leben vor ihr, das heute da draußen mit Sonnenlicht und
tausend jungen Blüten sein Auferstehen feierte. Sie mußte
danken. Wem? Der Macht, die ihr geholfen. Und so kniete sie hin
in einen der Betstühle und lehnte den Kopf gegen das Holz der
Wand und sagte immer leise vor sich hin: „Ich danke dir. O wie
ich dir danke!" Dann stand sie ganz heiter und erlöst auf. Nun
ohne Grübeln und Sorgen hinein in den jungen Tag. Schlen-
dernd und hier und dort stehen bleibend kam sie an die Tauf-
kapelle. Sie stutzte. Dort stand einer, hatte ein Skizzenbuch in der
Hand und zeichnete mit schnellen, flotten Strichen den Raum ab.
Den kannte sie. Ja, es fiel ihr ein, er hatte gesagt, er solle hier
Illustrationen zu einem Roman entwerfen.
Leise glitt sie heran und blieb, ein Lächeln um die Lippen,
neben ihm stehen. Er war so versunken, daß er nichts merkte.
Ein letzter Strich, der Stift wurde in das Buch geschoben. Da
sagte jemand: „Darf ich es nicht einmal sehen?"
So hatte sie sich die Wirkung ihrer Worte nicht vorgestellt.
Wie gestochen flog er zusammen und starrte sie an. „Sie? Sie?
Sind Sie es wirklich?"
„Ach nein, esistmeinKleiderständer.Deristmirdavongelaufen."
Er lachte auf, und schnell — des
Ortes gedenkend — fing er den
Laut zurück.
„Die Menschen sagen, es gibt
kein Wunder mehr. Ich glaube
wieder an Wunder. Drüben vor
dem Seitenaltar habe ich gestan-
den und gebetet: Ml ihr guten
Heiligen, die ihr diesen wunder-
vollen Bau bewohnt, gebt mir ein
Wiedersehen/ Und eh eine halbe
Stunde um ist —"
„Dann müssen Sie ihnen nun
auch danken dafür."
„Wie mache ich das?"
„Haben Sie das Danken verlernt? Ja, ich hatte es auch. Aber
eben ist es mir doch wieder gelungen. Es ist so einfach. Die guten
Heiligen verlangen nur, daß es aus Herzensgründe geschieht.
Man muß nur sagen: Dank, Dank, tausend Dank. Das genügt
ihnen."
„Dank, Dank, 0 vielen, tausend Dank." Der Ton kam aus dem
Herzen, aber die Augen suchten nicht die Apostel an den Wänden,
die hingen nur an dem Mädchengesicht und waren so voll Freude,
daß Maria langsam unter ihren Blicken errötete.
„Müssen Sie hier noch viel zeichnen?"
„Nein, hier nicht mehr. Aber zur Rialtobrücke will ich und
das bunte Treiben dort festhalten. Volkstypen, Obstverkäufer,
Bettler, Gondeliers, und dann im Hofe des Dogenpalastes eine
stolz-herbe Dogaressa."
„Ich wäre damals, als wir vor vielen Jahren hier waren,
immer so gern zur Brücke gegangen, aber Fräulein von Meers-
berg litt es nicht."
„Wer war Fräulein von Meersberg?"
„Meine Erzieherin. Sie ließ mich keinen Schritt allein tun.
Und hinter uns ging immer noch steif und würdevoll der alte
Stephan."
„Wenn Sie mich als Schützer annehmen wollen — kommen
Sie jetzt mit. Am Morgen ist das Treiben dort am heitersten. Und
ich kenne die Stadt ganz genau, es kann Ihnen nichts zustoßen."
Wer verbot es ihr? Es war zu schön, so ganz frei und fröhlich
durch den sonnigen Morgen zu gehen, durch die Kanäle zu fahren,
sich verehrt zu fühlen und umsorgt, mit kleinen Aufmerksamkeiten
umgeben, mit Veilchen beschenkt, wie ein kleines Mädchen von
seinem Studenten, und einmal von Herzen jung zu sein, nur jung.
Als sie fast drei Stunden später vor dem häßlichen Palazzo
hielten, sagte Maria: „Nun danke ich Ihnen sehr vielmals. Dank,
Dank, tausend Dank. Und es ist ganz ehrlich gemeint. Sie haben
mir einen wunderschönen Morgen gegeben. Ich wußte nicht, daß
man auf so nette Weise eine Stadt kennenlernen kann. Und wenn
der Roman in dem Blatt erscheint — wie hieß es noch? —, dann
werde ich mir das kommen lassen und bei jedem Bilde denken:
Das sahen wir auch zusammen."
„Und bei der Dogaressa, — was denken Sie da, gnädiges
Fräulein?"
„Da sage ich mir: Armes Konterfei. Als du vor fünfhundert
Jahren durch die Lagunen fuhrst, warst du ein eingesperrter
Vogel. — Wir haben viel verloren, aber was haben wir auch
dafür gewonnen. Zum erstenmal weiß ich, was das Wort heißt:
Goldene Freiheit."
„Möchte es Ihnen eine goldene Freiheit bleiben."
So ehrfürchtig hatte noch keiner ihre Hand an seine Lippen
gezogen. So heiß hatten sie noch keine Augen zum Abschied an-
geblickt. Aber darüber lieber nicht nachdenken.
Das Tor ging auf, sie trat hinein in die dämmernde Halle.
c*)wei Türen standen auf. Ein Mädchen war beschäftigt, in den
Stuben Ordnung zu schaffen. Allerlei billiger Lurus prahlte
aus Teppichen und Wandbehängen. Maria dachte verwundert:
„Wer wohnt denn hier unten?"
Eben wurde eine Tür aufgestoßen, ein junger Herr trat heraus,
wandte sich noch einmal und rief in das Zimmer zurück: „Heute
abend vor dem Cafö Quadri."
War das nicht — Es war ja freilich Jahre her, da sah sie ihn
zum letztenmal — aber wer vergißt seine erste Backfischneigung?
Fredi Hochheim von den Ofener Dragonern, der übermütige,
gänzlich haltlose und doch so höchst amüsante Cousin, der die Tante
Jnnozentia immer Tante Unnützentia nannte, weil sie ihn scharf
an die Kandare nahm, sooft er sich auf Erdmannsdorf sehen ließ.
Sie hatten sich gegenseitig nicht geschätzt, er und die alte Durch-
laucht.
Aber sah der heruntergekommen aus! Und doch — Und wenn
sie noch gezweifelt hätte in dem unsicheren Licht, sein Schreck
verriet ihn.
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Das Buch für Alle
Baedeker in der Hand, und lasen mit lauter Stimme die Sehens-
würdigkeiten herunter. Aber es waren ihrer nicht allzu viele, der
kalte Frühling hatte die Leute im Norden abgeschreckt.
Maria war in Venedig gewesen im Jahre vor dem großen
Krieg. Damals ein dreizehnjähriges Mädchen, hatte sie die Er-
läuterungen der Erzieherin als notwendige Pein empfunden, und
allzuviel war nicht haften geblieben in ihrem Gedächtnis. Aber
der Tausende von Tauben erinnerte sie sich, und derMarkuskirche,
vor der sie gefragt hatte: „Ist das ein Theater oder ein Zirkus?"
So heidnisch war ihr die gold- und farbengeschmückte Front
erschienen.
Jetzt lenkte sie den Fuß hinüber und trat ein.
Jmm rr hatte das Dämmern der Kirchen eine große Macht über
ihre Stimmung gehabt, obgleich sie — ein fröhliches Weltkind —
nie kirchlich gewesen war. Ihre Mutter, die zweite Frau ihres
Vaters, war eine kleine deutsche Prinzessin gewesen, die darauf
bestanden, ihrem einzigen Kinde den protestantischen Glauben
ihrer Familie zu geben. Und der Vater, der immer noch an der
ersten Gattin hing, war diesem Kinde gegenüber zu gleichgültig
gewesen, um ihr Schwierigkeiten zu machen. Aber Maria war
in den katholischen Kirchen so heimisch gewesen wie in den prote-
stantischen, und die gütige Gottesmutter und die lieben Heiligen
waren ihr vertraute Freunde, wenn sie auch nicht gerade an-
betend die Hände zu ihnen hob.
Wie es durch das Dunkel der Säulenhalle überall von den
Wänden und Kuppelbogen her aufglänzte! Wie die hohen Ge-
stalten der Jünger und Märtyrer, seit Hunderten von Jahren in
ihrer gleich en Leuchtkraft, aus Tausenden von winzigen Steinchen
zusammengesetzt, still in den Raum hineinschauten!
Am Altar wölkte sich Weihrauch. Gesang kam leise herab vom
Chor, Knabenstimmen stiegen an und sanken sanft wieder hinweg,
sie konnte den lateinischen Sang nicht verstehen. Nur den Dank
im eigenen Herzen, der sie Hierherein getrieben, den verstand sie.
Erlöst aus der lieblosen Haft langer Jahre war sie zurückgekommen
zu dem einzigen Herzen, das ihr gehörte. Und weit und groß lag
das Leben vor ihr, das heute da draußen mit Sonnenlicht und
tausend jungen Blüten sein Auferstehen feierte. Sie mußte
danken. Wem? Der Macht, die ihr geholfen. Und so kniete sie hin
in einen der Betstühle und lehnte den Kopf gegen das Holz der
Wand und sagte immer leise vor sich hin: „Ich danke dir. O wie
ich dir danke!" Dann stand sie ganz heiter und erlöst auf. Nun
ohne Grübeln und Sorgen hinein in den jungen Tag. Schlen-
dernd und hier und dort stehen bleibend kam sie an die Tauf-
kapelle. Sie stutzte. Dort stand einer, hatte ein Skizzenbuch in der
Hand und zeichnete mit schnellen, flotten Strichen den Raum ab.
Den kannte sie. Ja, es fiel ihr ein, er hatte gesagt, er solle hier
Illustrationen zu einem Roman entwerfen.
Leise glitt sie heran und blieb, ein Lächeln um die Lippen,
neben ihm stehen. Er war so versunken, daß er nichts merkte.
Ein letzter Strich, der Stift wurde in das Buch geschoben. Da
sagte jemand: „Darf ich es nicht einmal sehen?"
So hatte sie sich die Wirkung ihrer Worte nicht vorgestellt.
Wie gestochen flog er zusammen und starrte sie an. „Sie? Sie?
Sind Sie es wirklich?"
„Ach nein, esistmeinKleiderständer.Deristmirdavongelaufen."
Er lachte auf, und schnell — des
Ortes gedenkend — fing er den
Laut zurück.
„Die Menschen sagen, es gibt
kein Wunder mehr. Ich glaube
wieder an Wunder. Drüben vor
dem Seitenaltar habe ich gestan-
den und gebetet: Ml ihr guten
Heiligen, die ihr diesen wunder-
vollen Bau bewohnt, gebt mir ein
Wiedersehen/ Und eh eine halbe
Stunde um ist —"
„Dann müssen Sie ihnen nun
auch danken dafür."
„Wie mache ich das?"
„Haben Sie das Danken verlernt? Ja, ich hatte es auch. Aber
eben ist es mir doch wieder gelungen. Es ist so einfach. Die guten
Heiligen verlangen nur, daß es aus Herzensgründe geschieht.
Man muß nur sagen: Dank, Dank, tausend Dank. Das genügt
ihnen."
„Dank, Dank, 0 vielen, tausend Dank." Der Ton kam aus dem
Herzen, aber die Augen suchten nicht die Apostel an den Wänden,
die hingen nur an dem Mädchengesicht und waren so voll Freude,
daß Maria langsam unter ihren Blicken errötete.
„Müssen Sie hier noch viel zeichnen?"
„Nein, hier nicht mehr. Aber zur Rialtobrücke will ich und
das bunte Treiben dort festhalten. Volkstypen, Obstverkäufer,
Bettler, Gondeliers, und dann im Hofe des Dogenpalastes eine
stolz-herbe Dogaressa."
„Ich wäre damals, als wir vor vielen Jahren hier waren,
immer so gern zur Brücke gegangen, aber Fräulein von Meers-
berg litt es nicht."
„Wer war Fräulein von Meersberg?"
„Meine Erzieherin. Sie ließ mich keinen Schritt allein tun.
Und hinter uns ging immer noch steif und würdevoll der alte
Stephan."
„Wenn Sie mich als Schützer annehmen wollen — kommen
Sie jetzt mit. Am Morgen ist das Treiben dort am heitersten. Und
ich kenne die Stadt ganz genau, es kann Ihnen nichts zustoßen."
Wer verbot es ihr? Es war zu schön, so ganz frei und fröhlich
durch den sonnigen Morgen zu gehen, durch die Kanäle zu fahren,
sich verehrt zu fühlen und umsorgt, mit kleinen Aufmerksamkeiten
umgeben, mit Veilchen beschenkt, wie ein kleines Mädchen von
seinem Studenten, und einmal von Herzen jung zu sein, nur jung.
Als sie fast drei Stunden später vor dem häßlichen Palazzo
hielten, sagte Maria: „Nun danke ich Ihnen sehr vielmals. Dank,
Dank, tausend Dank. Und es ist ganz ehrlich gemeint. Sie haben
mir einen wunderschönen Morgen gegeben. Ich wußte nicht, daß
man auf so nette Weise eine Stadt kennenlernen kann. Und wenn
der Roman in dem Blatt erscheint — wie hieß es noch? —, dann
werde ich mir das kommen lassen und bei jedem Bilde denken:
Das sahen wir auch zusammen."
„Und bei der Dogaressa, — was denken Sie da, gnädiges
Fräulein?"
„Da sage ich mir: Armes Konterfei. Als du vor fünfhundert
Jahren durch die Lagunen fuhrst, warst du ein eingesperrter
Vogel. — Wir haben viel verloren, aber was haben wir auch
dafür gewonnen. Zum erstenmal weiß ich, was das Wort heißt:
Goldene Freiheit."
„Möchte es Ihnen eine goldene Freiheit bleiben."
So ehrfürchtig hatte noch keiner ihre Hand an seine Lippen
gezogen. So heiß hatten sie noch keine Augen zum Abschied an-
geblickt. Aber darüber lieber nicht nachdenken.
Das Tor ging auf, sie trat hinein in die dämmernde Halle.
c*)wei Türen standen auf. Ein Mädchen war beschäftigt, in den
Stuben Ordnung zu schaffen. Allerlei billiger Lurus prahlte
aus Teppichen und Wandbehängen. Maria dachte verwundert:
„Wer wohnt denn hier unten?"
Eben wurde eine Tür aufgestoßen, ein junger Herr trat heraus,
wandte sich noch einmal und rief in das Zimmer zurück: „Heute
abend vor dem Cafö Quadri."
War das nicht — Es war ja freilich Jahre her, da sah sie ihn
zum letztenmal — aber wer vergißt seine erste Backfischneigung?
Fredi Hochheim von den Ofener Dragonern, der übermütige,
gänzlich haltlose und doch so höchst amüsante Cousin, der die Tante
Jnnozentia immer Tante Unnützentia nannte, weil sie ihn scharf
an die Kandare nahm, sooft er sich auf Erdmannsdorf sehen ließ.
Sie hatten sich gegenseitig nicht geschätzt, er und die alte Durch-
laucht.
Aber sah der heruntergekommen aus! Und doch — Und wenn
sie noch gezweifelt hätte in dem unsicheren Licht, sein Schreck
verriet ihn.