IIO
Heft 5
Das Buch für 2b l l e
Von Oberstudiendirektor Dr. Johannes Prüfer
(^m Anschluß an einen Vortrag über das Kinderspiel, den ich vor einigen
<^»^Jahren in Berlin gehalten hatte, entwickelte sich eine lebhafte Aus-
sprache. Unter anderem warf eine Mutter die Frage auf: „Darf ich meinen
dreizehnjährigen Jungen noch spielen lassen?" Die Meinungen darüber
gingen weit auseinander. Manche der anwesenden Eltern waren dafür,
andere dagegen. Nun wollte man meine Ansicht hören. Ich fragte zunächst:
„Was spielt denn der betreffende Knabe? Darauf kommt es nämlich an."
— „Alles mögliche," antwortete die Mutter. „Unsere Kinder haben ein
,Pferderennen' und eine ,Reise um die Welt' und Mensch, ärgere dich
nicht!'. Dann läßt er gern seinen ,Dienstmann' fahren, das ist ein Mann
aus Blech mit einem Karren, der wird aufgezogen. Auch ein ,Äffchen'
hat er, das kann man an einer Schnur hinausklettern lassen. Oder er
schaukelt im Garten und spielt mit der Katze." — „Was ihr Bub treibt,"
mußte ich der Frau leider antworten, „das sind ja im Grunde gar keine
Spiele, sondern nur Spielereien, die zwar an sich harmlos sind, denen man
sich auch einmal vorübergehend in kurzen Erholungspausen hingeben darf,
die man aber niemals an Stelle wirklicher Pflichten treten lassen darf."
„Wie ist es denn nun bei meinem Sohn?" meldete sich eine andere
Mutter. „Er soll Ostern konfirmiert werden, und er spielt immer noch mit
Bleisoldaten. Gewöhnlich spielt er mit einem Freund zusammen, der
dann seine Bleisoldaten noch mitbringt. Die beiden bauen sich dann aus
Moos, Steinen, Borke und Holzstückchen eine große Landschaft auf dem
Fußboden auf, manchmal so groß wie die halbe Wohnstube, mit Flüssen,
Brücken, Bergen und Wegen. Dahinein stellen sie ihre Soldaten — es sind
viele hundert —, wie sie's in ihrem. Geschichtsbuch auf den »Schlachten-
plänen' gesehen haben. Nach ganz bestimmten Regeln, die sie selbst ge-
fchaffen haben, bewegen sie dann ihre Truppen. Manchmal fangen sie
Sonnabends gleich nach dem Mittagessen an mit Spielen und sind abends
noch nicht fertig. Ich muß ihnen dann oft die Erlaubnis geben, daß sie
alles stehen lassen und am Sonntag früh gleich weiterspielen dürfen. Frei-
lich weiß ich nicht, ob's richtig ist. Aber wenn ich so sehe, wie geschickt sie
aufbauen, wie sie dabei nachdenken und sich alles genau überlegen, — und
vor allem, wie sie in ihrem Eifer ganz bei der Sache sind und wie glücklich
dabei ihre Augen strahlen, dann kann ich's ihnen nicht abschlagen." —
„Sie haben ein ganz richtiges Gefühl dafür," erwiderte ich der Frau,
„daß diese Art zu spielen etwas ganz anderes ist als die Spielereien, von
denen wir vorhin hörten. Hier spielt zugleich die Seele, dort nur die Hand.
Das ist ein gewaltiger Unterschied. — Und wie steht's mit den Schul-
arbeiten?" — „Die könnten besser sein," antwortete die Mutter ehrlich,
„seine Lehrer sagen, er würde einer der Ersten sein, wenn er fleißiger wäre,
aber er hat für manche Fächer gar kein Interesse, zum Beispiel für fremde
Sprachen. Daher sind seine Leistungen hier manchmal kaum genügend." —
Die meisten Zuhörer erwarteten sicher, daß ich als Schulmann etwa sagen
würde: „Unter diesen Umständen muß das Soldatenspiel eingeschränkt wer-
den, denn erst kommt die Pflicht, also die Schularbeit. Sie könnten ihm sein
Soldatenspiel höchstens einmal als Vergünstigung gewähren, wenn er in
seinen schlechten Fächern gute Zensuren mit nach Hause bringt." Einen
Augenblick schwankte ich, ob ich nicht wirklich so sprechen sollte.
Aber ich kann nun einmal Erziehungsfragen nicht nur vom Standpunkt
der Schule betrachten, ich kann es nur vom Standpunkt des Lebens,
vom Standpunkt des Allgemein-Menschlichen. Daher erwiderte ich der
Frau: „Bei Ihrer Erzählung ist soeben ein Schimmer aus meiner eigenen
Knabenzeit durch meine Seele gehuscht, und die Augen meines damals
liebsten Freundes hatten mir zugelächelt: »Waren wir zwei nicht geradeso,
und ist aus uns beiden nicht trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen,
etwas Ordentliches geworden?' — Wohl lassen sich in den Schularbeiten
durch äußeren Zwang Augenblickserfolge hervorbringen, aber wie steht's
mit der Arbeitslust, mit der Arbeitsfreudigkeit im ganzen, auf die es im
späteren Leben doch in erster Linie ankommt? Warum werfen denn so
viele junge Leute an dem Tage ihrer Schulentlassung die Bücher in die
Ecke, um sie nie wieder anzurühren? Warum verbummeln so viele, wenn
sie nicht mehr die Hand ihres Lehrers über sich wissen? Weil sie in ihrer
Jugend das Beste nicht kennengelernt und innerlich erlebt haben: eine
starke und echte Arbeitsfreudigkeit. Wer nur tätig ist, weil er muß, der
leistet Sklavenarbeit, die auf dem Menschen lastet und ihn niederdrückt.
Frei und glücklich fühlt sich nur der Mensch, der schafft und gestaltet, weil
er gar nicht anders kann, weil ihn ein innerer Drang dazu zwingt. Das
in ihm lebende Geistige will sich im Stofflichen darstellen. Was er in seiner
Seele schaut, das will und muß er mit seinen Händen formen, das muß
er im äußeren Leben verwirklichen, dem toten Stoff muß er seine Seele
einhauchen. Solche Arbeit erhebt und beglückt. Nicht nur der Künstler
handelt so, sondern jeder, der nicht »tagelöhnert', seine Arbeit liebhat und
der an ihr mit seiner Seele schafft. Wer so eingestellt ist, der tut eine
Sache um ihrer selbst willen. Er sucht nicht Lohn und Dank — beides
stellt sich bei tüchtiger Arbeit von selbst ein —, sondern er folgt nur seinem
starken inneren Triebe. — Nicht das fertige Werk, sondern die Arbeit ist
ihm alles. Schaffen und Gestalten zu dürfen, das ist des höher gearteten
Menschen schönstes Glück. Hier schimmert aus den Tiefen seiner Seele der
ewige Goldgrund des Rein-Menschlichen herauf. Im echten Kinderspiel
— wenn der junge Mensch ganz hingegeben ist an sein Tun — da empfindet
er dieses reine Glück. Daher die strahlenden Augen! — Laßt ihm diesen
Himmel, solange es möglich ist! Je älter er wird, umso bewußter wird er
seine Schönheit empfinden und umso stärker wird es ihn immer wieder in
dieses selige Land ziehen. Sorgt euch nicht, er könnte bei den Dingen
seiner Kinderspiele stehen bleiben! Er wird nicht dauernd mit Bleisoldaten
spielen. Ganz von selbst wird sich sein Schaffensdrang neue Ziele stecken, und
ehe ihr's euch verseht, steht er mitten drin im vollen Mannesleben und
-wirken. Die Hauptsache ist nur, daß er die Schönheit des Schaffens und
Arbeitens schon in der Jugend erlebt hat. Manche Kinder finden im Schul-
unterricht die Möglichkeit, diese Arbeitsfreude zu erleben. Wohl ihnen!
Andere Kinder aber finden diese Möglichkeit in der Schule nicht, sie finden
sie vielleicht nur im Bauen und Basteln, oder im freien Zeichnen, oder
in irgend einer Werkarbeit, oder eben im Spiel mit Bleisoldaten. Durch
welches Mittel die Seele geöffnet wird, ob es durch Schulunterricht ge-
schieht oder durch Werktätigkeit, oder durch wahres Spiel, das ist ganz
gleich. Ob das Kind diesen oder jenen Weg geht, das hängt lediglich von
seiner seelischen Beschaffenheit ab, von der Eigenart seines Wesens, von
seiner Individualität. Darum laßt eure Kinder frei spielen, solange sie
danach verlangen! Ihre Seelen können nicht verkümmern und verkrüppeln,
solange sie in solcher Weise spielen dürfen, sondern sie werden sich — ihrem
innersten Wesen getreu — gesund und voll entfalten. Sie werden in dieser
Sonne wachsen und blühen, und einst Früchte tragen — hundertfältig."
Jugendluft / Nach einem Schattenbild von E. Schmitz
Heft 5
Das Buch für 2b l l e
Von Oberstudiendirektor Dr. Johannes Prüfer
(^m Anschluß an einen Vortrag über das Kinderspiel, den ich vor einigen
<^»^Jahren in Berlin gehalten hatte, entwickelte sich eine lebhafte Aus-
sprache. Unter anderem warf eine Mutter die Frage auf: „Darf ich meinen
dreizehnjährigen Jungen noch spielen lassen?" Die Meinungen darüber
gingen weit auseinander. Manche der anwesenden Eltern waren dafür,
andere dagegen. Nun wollte man meine Ansicht hören. Ich fragte zunächst:
„Was spielt denn der betreffende Knabe? Darauf kommt es nämlich an."
— „Alles mögliche," antwortete die Mutter. „Unsere Kinder haben ein
,Pferderennen' und eine ,Reise um die Welt' und Mensch, ärgere dich
nicht!'. Dann läßt er gern seinen ,Dienstmann' fahren, das ist ein Mann
aus Blech mit einem Karren, der wird aufgezogen. Auch ein ,Äffchen'
hat er, das kann man an einer Schnur hinausklettern lassen. Oder er
schaukelt im Garten und spielt mit der Katze." — „Was ihr Bub treibt,"
mußte ich der Frau leider antworten, „das sind ja im Grunde gar keine
Spiele, sondern nur Spielereien, die zwar an sich harmlos sind, denen man
sich auch einmal vorübergehend in kurzen Erholungspausen hingeben darf,
die man aber niemals an Stelle wirklicher Pflichten treten lassen darf."
„Wie ist es denn nun bei meinem Sohn?" meldete sich eine andere
Mutter. „Er soll Ostern konfirmiert werden, und er spielt immer noch mit
Bleisoldaten. Gewöhnlich spielt er mit einem Freund zusammen, der
dann seine Bleisoldaten noch mitbringt. Die beiden bauen sich dann aus
Moos, Steinen, Borke und Holzstückchen eine große Landschaft auf dem
Fußboden auf, manchmal so groß wie die halbe Wohnstube, mit Flüssen,
Brücken, Bergen und Wegen. Dahinein stellen sie ihre Soldaten — es sind
viele hundert —, wie sie's in ihrem. Geschichtsbuch auf den »Schlachten-
plänen' gesehen haben. Nach ganz bestimmten Regeln, die sie selbst ge-
fchaffen haben, bewegen sie dann ihre Truppen. Manchmal fangen sie
Sonnabends gleich nach dem Mittagessen an mit Spielen und sind abends
noch nicht fertig. Ich muß ihnen dann oft die Erlaubnis geben, daß sie
alles stehen lassen und am Sonntag früh gleich weiterspielen dürfen. Frei-
lich weiß ich nicht, ob's richtig ist. Aber wenn ich so sehe, wie geschickt sie
aufbauen, wie sie dabei nachdenken und sich alles genau überlegen, — und
vor allem, wie sie in ihrem Eifer ganz bei der Sache sind und wie glücklich
dabei ihre Augen strahlen, dann kann ich's ihnen nicht abschlagen." —
„Sie haben ein ganz richtiges Gefühl dafür," erwiderte ich der Frau,
„daß diese Art zu spielen etwas ganz anderes ist als die Spielereien, von
denen wir vorhin hörten. Hier spielt zugleich die Seele, dort nur die Hand.
Das ist ein gewaltiger Unterschied. — Und wie steht's mit den Schul-
arbeiten?" — „Die könnten besser sein," antwortete die Mutter ehrlich,
„seine Lehrer sagen, er würde einer der Ersten sein, wenn er fleißiger wäre,
aber er hat für manche Fächer gar kein Interesse, zum Beispiel für fremde
Sprachen. Daher sind seine Leistungen hier manchmal kaum genügend." —
Die meisten Zuhörer erwarteten sicher, daß ich als Schulmann etwa sagen
würde: „Unter diesen Umständen muß das Soldatenspiel eingeschränkt wer-
den, denn erst kommt die Pflicht, also die Schularbeit. Sie könnten ihm sein
Soldatenspiel höchstens einmal als Vergünstigung gewähren, wenn er in
seinen schlechten Fächern gute Zensuren mit nach Hause bringt." Einen
Augenblick schwankte ich, ob ich nicht wirklich so sprechen sollte.
Aber ich kann nun einmal Erziehungsfragen nicht nur vom Standpunkt
der Schule betrachten, ich kann es nur vom Standpunkt des Lebens,
vom Standpunkt des Allgemein-Menschlichen. Daher erwiderte ich der
Frau: „Bei Ihrer Erzählung ist soeben ein Schimmer aus meiner eigenen
Knabenzeit durch meine Seele gehuscht, und die Augen meines damals
liebsten Freundes hatten mir zugelächelt: »Waren wir zwei nicht geradeso,
und ist aus uns beiden nicht trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen,
etwas Ordentliches geworden?' — Wohl lassen sich in den Schularbeiten
durch äußeren Zwang Augenblickserfolge hervorbringen, aber wie steht's
mit der Arbeitslust, mit der Arbeitsfreudigkeit im ganzen, auf die es im
späteren Leben doch in erster Linie ankommt? Warum werfen denn so
viele junge Leute an dem Tage ihrer Schulentlassung die Bücher in die
Ecke, um sie nie wieder anzurühren? Warum verbummeln so viele, wenn
sie nicht mehr die Hand ihres Lehrers über sich wissen? Weil sie in ihrer
Jugend das Beste nicht kennengelernt und innerlich erlebt haben: eine
starke und echte Arbeitsfreudigkeit. Wer nur tätig ist, weil er muß, der
leistet Sklavenarbeit, die auf dem Menschen lastet und ihn niederdrückt.
Frei und glücklich fühlt sich nur der Mensch, der schafft und gestaltet, weil
er gar nicht anders kann, weil ihn ein innerer Drang dazu zwingt. Das
in ihm lebende Geistige will sich im Stofflichen darstellen. Was er in seiner
Seele schaut, das will und muß er mit seinen Händen formen, das muß
er im äußeren Leben verwirklichen, dem toten Stoff muß er seine Seele
einhauchen. Solche Arbeit erhebt und beglückt. Nicht nur der Künstler
handelt so, sondern jeder, der nicht »tagelöhnert', seine Arbeit liebhat und
der an ihr mit seiner Seele schafft. Wer so eingestellt ist, der tut eine
Sache um ihrer selbst willen. Er sucht nicht Lohn und Dank — beides
stellt sich bei tüchtiger Arbeit von selbst ein —, sondern er folgt nur seinem
starken inneren Triebe. — Nicht das fertige Werk, sondern die Arbeit ist
ihm alles. Schaffen und Gestalten zu dürfen, das ist des höher gearteten
Menschen schönstes Glück. Hier schimmert aus den Tiefen seiner Seele der
ewige Goldgrund des Rein-Menschlichen herauf. Im echten Kinderspiel
— wenn der junge Mensch ganz hingegeben ist an sein Tun — da empfindet
er dieses reine Glück. Daher die strahlenden Augen! — Laßt ihm diesen
Himmel, solange es möglich ist! Je älter er wird, umso bewußter wird er
seine Schönheit empfinden und umso stärker wird es ihn immer wieder in
dieses selige Land ziehen. Sorgt euch nicht, er könnte bei den Dingen
seiner Kinderspiele stehen bleiben! Er wird nicht dauernd mit Bleisoldaten
spielen. Ganz von selbst wird sich sein Schaffensdrang neue Ziele stecken, und
ehe ihr's euch verseht, steht er mitten drin im vollen Mannesleben und
-wirken. Die Hauptsache ist nur, daß er die Schönheit des Schaffens und
Arbeitens schon in der Jugend erlebt hat. Manche Kinder finden im Schul-
unterricht die Möglichkeit, diese Arbeitsfreude zu erleben. Wohl ihnen!
Andere Kinder aber finden diese Möglichkeit in der Schule nicht, sie finden
sie vielleicht nur im Bauen und Basteln, oder im freien Zeichnen, oder
in irgend einer Werkarbeit, oder eben im Spiel mit Bleisoldaten. Durch
welches Mittel die Seele geöffnet wird, ob es durch Schulunterricht ge-
schieht oder durch Werktätigkeit, oder durch wahres Spiel, das ist ganz
gleich. Ob das Kind diesen oder jenen Weg geht, das hängt lediglich von
seiner seelischen Beschaffenheit ab, von der Eigenart seines Wesens, von
seiner Individualität. Darum laßt eure Kinder frei spielen, solange sie
danach verlangen! Ihre Seelen können nicht verkümmern und verkrüppeln,
solange sie in solcher Weise spielen dürfen, sondern sie werden sich — ihrem
innersten Wesen getreu — gesund und voll entfalten. Sie werden in dieser
Sonne wachsen und blühen, und einst Früchte tragen — hundertfältig."
Jugendluft / Nach einem Schattenbild von E. Schmitz