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127

Heft 6


D a s B u ch f ü r 2l l l e


„Elena, du hast noch immer nicht das geringste Verständnis
dafür, daß Menschen, die einen Beruf haben, diesen Beruf auch
ausfüllen müssen. Wenn er auf Madeira zu zeichnen hat, so ist
das ein großer Elücksfall für ihn. Er wird wohl nachher wieder
eine ganze Weile von dem Verdienst weiterstudieren wollen.
Ach, lieber heiliger Sebastian, warum hast du den Männern so
viel mehr Möglichkeiten gegeben, das Leben anzupacken und zu
meistern? Es ist eine große Ungerechtigkeit."
„Was hat denn der heilige Sebastian damit zu tun?"
„Er hing in meiner Kinderstube über meinem Bett. Mit
Pfeilen gespickt, aber begeistert gen Himmel schauend. Die Amme
hatte ihn hingehängt, um die Ketzerseele ihres geliebten Schütz-
lings zu retten. Weißt du, wenn man nicht verpflichtet ist, die
Heiligen anzuru¬
fen, hat man —
glaube ich — ein
viel intimeres Ver¬
hältnis zu ihnen.
Mir ist er immer
der gütige Freund
geblieben. Ein
Mensch, der in sol¬
cher Qual, von so
viel Feindschaft zu
Tode gehetzt, noch
lächeln kann—Ich
glaube, das Bild
war eine künstle¬
rische Scheußlich¬
keit. Immerhin hat
es mir einen guten
Gedanken mitge¬
geben in mein Le¬
ben. Lächeln, wenn
sieeinenzerreißen."
„Du wärest im¬
stande dazu. — Ich
gewiß nicht. O wie
ich die Leute wie¬
der mißhandeln
würde, die mich so
peinigen! Kratzen
und beißen würde
ich."
„Sergeis Schule."
„Eslagschonvor-
her in mir. — Hast
du mir Pastetchen
gebracht, Maria?
Ja? O du bist immer so lieb. Gehst du selber in das gräßliche
Bräu zum Essen?"
„Ich war schon dort. Ging etwas früher aus der Stunde fort."
Und sie ging in das zweite Zimmer und holte sich eine Handvoll
trockenen Zwieback hervor, denn die Wirtin hatte die Rechnung
schon wieder auf den Tisch gelegt. Und Feuerung mußte auch
sein. Und wenn die Russin morgen, am Sonntag, kam, sollte ein
netter kleiner Teetisch gerichtet sein, mit ein bißchen hiervon und
davon, einigen feinen Sandwiches, ein wenig knusprigem Ge-
bäck, ein paar Blumen — Da seufzte sie. Das war am schwersten
zu entbehren, diese Kleinigkeiten, die das häßliche Mietzimmer
Heller machten, Skizzen, Blumen, seidene Kissen, einige Spitzen-
deckchen — Die nackte Häßlichkeit trat so ganz unverhüllt vor die
Augen. Und wie sie den nächsten Tag ihren Teetisch betrachtete
und bedachte, daß sie dafür acht Tage lang wieder um jeden
Pfennig feilschen müßte, kam ein neuer Seufzer. Es war doch
alles so mager und dürftig. Am meisten wirkten noch die drei
langstieligen Rosen, die Elena gekauft hatte, aber gerade die
hatten ein böses Loch in die Kasse gerissen.
Nadja Kutusoff hatte sich nicht umsonst auffordern lassen. Sie

kam pünktlich. An der Straßenecke verabschiedete sie einen Freund,
den Baßbuffo vom Operettentheater, bei dem sie Gesangsstunden
nahm. Umsonst. Er hatte so viel Interesse für angehende Künst-
lerinnen.
„Ich werde vielleicht nur dies eine Mal dort hineinsehen. Aber
hineinsehen will ich. Es liegt mir so in meinem Gefühl — die
Erdmannsdorf, das ist irgend etwas, ein Roman oder eine Tra-
gödie oder Komödie, etwas ist es."
„Vielleicht nichts als ein papierner Stammbaum."
„Lieber Freund, Stammbäume werden nur von denen ver-
achtet, die selbst keine Stammbäume haben. Auf Wiedersehen."
Der Buffo murmelte etwas hinter ihr drein, was nicht schmei-
chelhaft klang. Wenn sie nicht selbst von einem gewissen geheimnis-
vollen Hauch um-
wittert gewesen
wäre, die Gesangs-
stund en hätten schon
längst ein Ende ge-
habt. Aber es gibt
immer einen guten
Ruf, wenn man der
Freund einer —sie
soll es wirklich sein
— Fürstin ist. Ob-
gleich russische Für-
sten einmal so zahl-
reich waren wie die
Sterne am Himmel.
Elena stand im
kleinen Wohnzim-
mer und hielt die
Hände fröstelnd
über dem eisernen
Kanonenofen, als
NadjaKutusoff ein-
trat.
Mit dem ersten
Blick sah sie, daß sie
die Dunkle mit den
Flackeraugen nicht
ausstehen konnte.
Umso liebenswür-
diger neigte sieden
Kopf, gerade eine
Linie nur, und
sagte: „Der Gast
und die Kollegin
meiner Schwester?
Bitte, treten Sie
doch näher, Fräulein Kutusoff." Denn die war betroffen an der
Tür stehen geblieben, sank jetzt tief im Hofknicks zusammen und
stammelte: „Kaiserliche Hoheit! Das ahnte ich nicht, daß mir
solche Ehre —" Sie küßte die schmale Hand der blonden Frau
wie überwältigt von so viel Glück.
Elena ärgerte sich. Natürlich, das hätte man sich denken können.
Wer in Petersburg hatte nicht die schöne blonde Großfürstin
Sergei gekannt, deren Bilder in jeder Kunsthandlung hingen!
Und wenn man sie nur im Theater, im Schlitten sah — Aber sie
tat, als verstände sie nicht.
„Ihnen scheint eine Ähnlichkeit etwas vorzugaukeln, Fräulein
Kutusoff. Von einer Kaiserlichen Hoheit wissen wir hier in unseren
elenden Stübchen nichts. Die würde sich wohl nicht hier hinein-
begeben. Ich bin nur die Baronin Biron, die wie so viele unserer
Leidensgenossen flüchten mußte und sich jetzt kümmerlich genug
durchschlägt."
Nadja Kutusoff tat sofort, als glaube sie jedes Wort. Wenn es
so sein sollte — gut. Obgleich sie selbst gern hier einmal wieder
die gewesen wäre, die sie als Kind war.
Maria kam aus dem Nebenzimmer, klingelte dem Mädchen

Der Spießer und das Untier / Nach einer Radierung von Otto Ouante'
 
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