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Die militärische Feier der Oktoberrevolution in Moskau. Rechts das Denkmal Lenins. (Preßphoto)

Das Gesicht des heutigen Rußlands
Von Friedrich Groeppler

ußland ist heute ohne Zweifel das arn meisten umstrittene Land, über
das die Meinungen einander schroff widersprechen. Von ihm gilt der
Ausspruch: „Von der Parteien Hast und Gunst verwirrt, schwankt sein
Charakterbild in der Geschichte." Für die einen ist Ruhland das Land der
Sehnsucht und der Erfüllung, das Land der Hoffnung und der Freiheit,
für die anderen das Land der unbedingtesten Ablehnung, das Land der
blutigen Gewalt, das man am besten aus der Gerneinschaft der Völker aus-
schlietzen sollte. Aber gerade diese widersprechende Beurteilung zeigt doch
auch wieder das lebendige Interesse, das überall für russische Fragen vor-
handen ist, und macht es auch für den Gebildeten bei uns zu einer Notwen-
digkeit, sich mit dem Problem „Rußland" eingehender aüseinänderzusetzen,
besonders, da dieses Land nach langer Pause wieder aktiv aufgetreten ist.
Früher nannte man — mit einer fast abgebrauchten Phrase — Amerika
„das Land der unbegrenzten Möglichkeiten", und doch: Amerika ist Europa.
Ostins Groteske, ins Phantastische verbogen, etwas vergrößert und — ver-
gröbert, aber im Grunde doch immer — Europa. Ganz anders jenes uns
fast unbekannte Land im Osten, Rußland, das wir besonders gegenwärtig
mit viel größerem Recht wie Amerika als das „Land der unbegrenzten
Möglichkeiten" bezeichnen müssen. So ist es ganz angebracht, einmal die
Gesichtszüge des jetzigen Rußlands zu betrachten, um aus ihnen, soweit
möglich, Schicksal und Charakter dieses riesigen, teilweise noch unerschlosse-
nen Landes zu bestimmen. Allerdings „Gesicht" ist zunächst ein Außeres,
ist Oberfläche, und es ist nicht immer leicht, aus den Gesichtszügen, die uns
ein Land zeigt, das Wesentliche herauszulesen, zu erkennen, was für
seelische Kräfte und Spannungen hinter diesem Antlitz wirksam waren
und noch wirksam sind. Wie beim Einzelmenschen, so ist es bei einem
ganzen Volk, bei einem Land: bestimmte Schicksale geben notwendiger-
weise dem Menschen und einem Volke eine ganz bestimmte Ausprägung.
Das Schicksal nun, welches dem gegenwärtigen Rußland in bestimmter
Richtung seine Gesichtszüge wohl für lange Zeit aufgedrückt hat, ist der

gewaltsame Umsturz von 1917, die zweite russische Revolution sowohl
nach ihren Beweggründen als auch nach ihren furchtbaren Ausmaßen und
tiefgreifenden Wirkungen. Auch derjenige, der Gewalt und Terror ablehnt,
kann sich dem Problem „Rußland" nicht entziehen — und wenn es nur in
dem Gedanken geschieht, den einmal Nietzsche ausgesprochen hat: „Die
wildesten Kräfte brechen Bahn, zunächst zerstörend; aber trotzdem war ihre
Tätigkeit nötig, damit später eine mildere Gesinnung hier ihr Haus auf-
schlage. Die schrecklichen Energien — das, was man das Böse nennt — sind
die Zyklopischen Architekten und Wegebauer der Humanität." Das russische
Problem kann, wenn auch nicht restlos erfaßt, im wesentlichen nach drei
Seiten hin bestimmt werden: der kulturellen, der politischen und der wirt-
schaftlichen Seite. Und aus diesen drei Hauptzügen des russischen Gesichtes
kann heute wohl am sichersten eine Beurteilung dieses Landes erfolgen.
Was nun zunächst die kulturelle Seite des russischen Problems anbe-
langt, so ist eines von vornherein zu betonen: die gesamte Kulturarbeit im
heutigen Rußland ist Tendenz, und zwar Tendenz in allerschärfster Aus-
prägung. Im gesamten Schulwesen ist Bildungsinhalt und Bildungsziel:
die sozialistische Ideologie. Die russische Regierung sieht ihre Hauptaufgabe
darin, in der gesamten Erziehungs- und Bildungsarbeit das eine Ziel zu
erreichen: den überzeugten Sozialisten im sozialistischen Staat. Wenn es
natürlich auch äußerst fraglich ist, ob überhaupt eine solche Tendenz auf die
Dauer durchgeführt und damit auch ein kulturelles Ziel erreicht werden
kann, Tatsache ist, daß Rußland alle Beziehungen in Kunst, Wissenschaft
und Bildung, also seine Gesamtheit des Kulturlebens, bewußt unter den
beherrschenden Gedanken des Sozialismus zu stellen strebt. Demgemäß
steht auch beim Schulunterricht die genannte Idee als Grundrichtung im
Mittelpunkt. Die russische Schule — also nicht bloß die Volksschule — ist
„Bekenntnisschule". So kommt es auch, daß irgendwelche Kulturgüter,
die mit den staatlichen Bildungsidealen in Widerspruch geraten, ohne Rück-
sicht auf ihren sonstigen hohen kulturellen Wert aus Schule und Lehrplan
 
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