Heft 6
Das Buch für Alle
Im neuen Rußland: Ein früheres Schloß als Erholungsstätte für Arbeiter. (Atlantic)
einigermaßen gelöst sein kann.
Man sucht die Unbildung auch
dadurch zu bekämpfen, daß man
überall in Stadt und Land
Erwachsenenschulen einrichtete.
Dabei ging man oft mit starkem
Zwange vor, was sich durchaus
als unzweckmäßig erwies. Die
„Zwangsschüler" — hauptsäch¬
lich die Bauern—übten „passive
Resistenz", und so mußte wieder
zum Prinzip der Freiwilligkeit
zurückgekehrt werden.
In diesem Zusammenhang
mag auch ganz kurz auf die heu¬
tige Stellung der Frau im rus¬
sischen Familien- und Staats¬
leben hingewiesen sein. Be¬
kanntlich hatte Rußland schon
teilweise vor dem Kriege die
Fragen der Frauenbildung und
des Frauenstudiums einer prak¬
tischen Lösung entgegenzuführen
versucht. Dadurch war die rus¬
sische Frau von jeher schon viel
tiefer in die Beziehungen und
Probleme der Wirtschaft, des
Staates, der Gesellschaft einge¬
drungen als viele ihrer europä¬
ischen Schwestern. Dadurch hat
die neue Regierung eine weit¬
gehende Möglichkeit, auch die
Fähigkeiten und Anlagen der
Frau für ihre Zwecke auszu¬
werten. Besonders bei der be-
rufstätigen Frau im heutigen Rußland tritt die bewußte Mitarbeit an den
Aufgaben des Staates sehr stark in Erscheinung. Der Frau wird die Um-
stellung in die neuen Verhältnisse zu erleichtern versucht, indem man das
Familienrecht auf eine durchaus neue Grundlage gestellt hat, vor allen
Dingen in der Frage der Kindererziehung und des Mutterschutzes. Aller-
dings sind kurz nach der Revolution äußerst starke Auswüchse und Aus-
artungen in Erscheinung getreten, die aber gegenwärtig wieder im Ab-
klingen begriffen sind. Der im
Wesen der Frau begründet lie¬
gende „Konservativismus" läßt
sich auch in Rußland nicht weg¬
kommandieren, und so sind, ab¬
gesehen von einigen Erleichte¬
rungen in bezug auf Eheschlie¬
ßung und Ehetrennung, die
Formen der Beziehung derbei-
den Geschlechter zueinander im
wesentlichen dieselben wie in
der übrigen Kulturwelt.
Aber auch in politischer Hin¬
sicht ist Rußland ein sehr ernst
zu nehmendes Problem, beson¬
ders, da es in seiner wiederher¬
gestellten Armee eine sehr be¬
achtenswerte Macht in die Wag¬
schale zu werfen hat. Heute
besitzt Rußland eine wohlaus¬
gebildete, schlagkräftige Armee,
deren Führer in dazu eingerich-
tetenKursenschulen ausgebildet
werden, um die Rote Armee zu
einem scharfen Instrument in
der Hand der Sowjetregierung
zu machen. Politisch muß Ru߬
land durchaus als asiatisch e Macht
betrachtet werden, als eine
Ausstrahlung jenes Asiens, das
immer bewußter und stärker die
„Los-von-Europa-Bewegung"
ausgestaltet. „Tlsien den Asiaten"
— diese Losung beginnt immer
w eitere Kreise im erwachenden Asien zu ergreifen. Die Reform in der Türkei,
die Vorgänge in Persien und Afghanistan, die Gärung in Indien und die
Kämpfe in China sind die „Dberflächenbilder" einer und derselben um-
fassenden Umgestaltung der ganzen asiatischen Menschheit. Im Bewußtsein
der asiatischen Völker ist es zu Ende mit Europas Übergewicht und Vorherr-
schaft — und im besten Falle wird Europa in Asien als Erster unter Gleichen
betrachtet. Wenn auch die Staaten Asiens mit Macht „europäisieren" — in
Verlassene Kinder in Sowjetrußland: Eine Schlafstelle in der Ecke eines Stalles. (Preßphoto)
Das Buch für Alle
Im neuen Rußland: Ein früheres Schloß als Erholungsstätte für Arbeiter. (Atlantic)
einigermaßen gelöst sein kann.
Man sucht die Unbildung auch
dadurch zu bekämpfen, daß man
überall in Stadt und Land
Erwachsenenschulen einrichtete.
Dabei ging man oft mit starkem
Zwange vor, was sich durchaus
als unzweckmäßig erwies. Die
„Zwangsschüler" — hauptsäch¬
lich die Bauern—übten „passive
Resistenz", und so mußte wieder
zum Prinzip der Freiwilligkeit
zurückgekehrt werden.
In diesem Zusammenhang
mag auch ganz kurz auf die heu¬
tige Stellung der Frau im rus¬
sischen Familien- und Staats¬
leben hingewiesen sein. Be¬
kanntlich hatte Rußland schon
teilweise vor dem Kriege die
Fragen der Frauenbildung und
des Frauenstudiums einer prak¬
tischen Lösung entgegenzuführen
versucht. Dadurch war die rus¬
sische Frau von jeher schon viel
tiefer in die Beziehungen und
Probleme der Wirtschaft, des
Staates, der Gesellschaft einge¬
drungen als viele ihrer europä¬
ischen Schwestern. Dadurch hat
die neue Regierung eine weit¬
gehende Möglichkeit, auch die
Fähigkeiten und Anlagen der
Frau für ihre Zwecke auszu¬
werten. Besonders bei der be-
rufstätigen Frau im heutigen Rußland tritt die bewußte Mitarbeit an den
Aufgaben des Staates sehr stark in Erscheinung. Der Frau wird die Um-
stellung in die neuen Verhältnisse zu erleichtern versucht, indem man das
Familienrecht auf eine durchaus neue Grundlage gestellt hat, vor allen
Dingen in der Frage der Kindererziehung und des Mutterschutzes. Aller-
dings sind kurz nach der Revolution äußerst starke Auswüchse und Aus-
artungen in Erscheinung getreten, die aber gegenwärtig wieder im Ab-
klingen begriffen sind. Der im
Wesen der Frau begründet lie¬
gende „Konservativismus" läßt
sich auch in Rußland nicht weg¬
kommandieren, und so sind, ab¬
gesehen von einigen Erleichte¬
rungen in bezug auf Eheschlie¬
ßung und Ehetrennung, die
Formen der Beziehung derbei-
den Geschlechter zueinander im
wesentlichen dieselben wie in
der übrigen Kulturwelt.
Aber auch in politischer Hin¬
sicht ist Rußland ein sehr ernst
zu nehmendes Problem, beson¬
ders, da es in seiner wiederher¬
gestellten Armee eine sehr be¬
achtenswerte Macht in die Wag¬
schale zu werfen hat. Heute
besitzt Rußland eine wohlaus¬
gebildete, schlagkräftige Armee,
deren Führer in dazu eingerich-
tetenKursenschulen ausgebildet
werden, um die Rote Armee zu
einem scharfen Instrument in
der Hand der Sowjetregierung
zu machen. Politisch muß Ru߬
land durchaus als asiatisch e Macht
betrachtet werden, als eine
Ausstrahlung jenes Asiens, das
immer bewußter und stärker die
„Los-von-Europa-Bewegung"
ausgestaltet. „Tlsien den Asiaten"
— diese Losung beginnt immer
w eitere Kreise im erwachenden Asien zu ergreifen. Die Reform in der Türkei,
die Vorgänge in Persien und Afghanistan, die Gärung in Indien und die
Kämpfe in China sind die „Dberflächenbilder" einer und derselben um-
fassenden Umgestaltung der ganzen asiatischen Menschheit. Im Bewußtsein
der asiatischen Völker ist es zu Ende mit Europas Übergewicht und Vorherr-
schaft — und im besten Falle wird Europa in Asien als Erster unter Gleichen
betrachtet. Wenn auch die Staaten Asiens mit Macht „europäisieren" — in
Verlassene Kinder in Sowjetrußland: Eine Schlafstelle in der Ecke eines Stalles. (Preßphoto)