iz8 Das Buch
Technik, Schule, Heer und Flotte —, so geschieht es nur, um auch hier
sich auf eigene Füße zu stellen, den Europäer langsam, aber zielbewußt
aus seinem Einfluß und lange innegehabter Vormachtstellung zurückzu-
drängen, unter Umständen auszuschalten. Und alle diese Gärungen, Span-
nungen, Entwicklungen wirken heute in Rußland zusammen, und — ob mit
Recht oder Unrecht, bleibt dahingestellt — Asien in seiner Gesamtheit hofft,
in Rußland Fürsprech und SachwalterseinerneuenBestrebungen zu finden.
Die erwachenden Völker Asiens glauben, wenn Europa die Selbständig-
machung Asiens hindern sollte, daß dann unter Umständen Rußland mit
seiner Heeresmacht eintreten werde für das Eigenrecht der asiatischen Welt,
der asiatischen Kultur. Hier beginnt die uralte Spannung Ost-West sichtbar zu
werden, und indem nur kurzeZeitmühsamverhülltenGegensatz zwischen Eng-
land und Rußland, der aufs
neue aufzuflammen beginnt,
scheinen sich weltpolitische
Entscheidungen allergrößten
Ausmaßes vorzubereiten.
Trotz des Ernstes dieses
Ausblickes sind die Reali¬
täten der Gegenwart stärker
als alle Prophezeiungen der
Zukunft. Eine Frage ist vor
allem für uns in D eutsch land
brennend geworden: die
wirtschaftliche. Die gegen-
w ärtige Arb eitskris e ist sich er
nicht nur eine vorüber¬
gehende Erscheinung. Sie
beruht auf der llberindu-
strialisierung des Westens,
der bei der Erschöpfung des
inneren Marktes und den
immer enger werdenden
Absatzgebieten für seine bis
ins kleinste organisierte In¬
dustrie ständig Kanäle
braucht, um seine Erzeug¬
nisse abfließen zu lassen und
so seine Industrie lebendig
und leistungsfähig zu erhal¬
ten. Es ist deshalb eine un¬
ausweichliche Forderung,
daß der Austausch zwischen
Osten und Westen wieder in
Fluß kommt, besonders, da
Rußland als Agrarland der
beste Abnehmer unserer Jn-
dustrieerzeugnisse werden
könnte. Allerdings ist da die
Kenntnis der heutigen rus¬
sischen wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse und Probleme un¬
bedingt nötig. Zunächst ist
dazu zu sagen, daß gegen¬
wärtig Rußland ein anderes
Gesicht zeigt als zur Zeit
des furchtbaren terroristi¬
schen „Kriegskommunis¬
mus". Damals wollte man
auf dem Weg erbarmungs¬
losester Gewalt die kom¬
munistische Idee in Er-
zeugung und Verbrauch verwirklichen, ein Vorgehen, das ganz Rußland
an den Rand des Ruins gebracht hat. Damals waren auch die rücksichtslosesten
Enteignungen, die Massenverhaftungen und Massenhinrichtungen an der
Tagesordnung, wobei vor allen Dingen das Bürgertum Unendliches zu
leiden hatte. Heute ist es anders: es ist ein wesentlich gemilderter „Staats-
sozialismus" am Ruder, der durch Staatstrusts und ein wohlausgebautes
Genossenschaftswesen sein wirtschaftliches Ziel zu erreichen sucht. Auch das
Bürgertum beginnt sich wieder wirtschaftlich zubetätigen, wozu ihm immer-
hin eine beschränkte Möglichkeit gegeben ist. Denn alle Gewalt hat auch in
Rußland die „privatwirtschaftlichen" Impulse nicht gänzlich ausrotten kön-
nen, und so hat auch hier die Regierung nachgeben müssen, allerdings unter
dem starken Widerspruch einer radikalen Minderheit. Heute ist der Anteil an
der russischen Wirtschaft prozentual ausgedrückt folgender: Staatstrusts
fünfzig Prozent, gewerkschaftliche und genossenschaftliche Organisationen
fünfundzwanzig Prozent, Privatkapital ebenfalls fünfundzwanzig Prozent.
Großhandel und Großindustrie sind durchweg in Staatshand, die Enteig-
nung ist hier, wie auch bei den Wohnungen, fast restlos durchgeführt.
Die Hauptwiderstände gegen die sozialistische Wirtschaftsordnung erwuch-
sen jedoch aus der Bauernschaft, und gerade hier wurden die neuen Macht-
haber gezwungen, ihren anfänglichen Radikalismus sehr stark einzuschränken
und umzustellen. Wenn auch nominell der russische Boden heute Staats-
eigentum ist, tatsächlich ist der Bauer Alleinbesitzer. Er bebaut seinen Acker
durchaus nach „freien", also privatwirtschaftlichen Grundsätzen. Wenn auch
der Bauer durchaus kein Parteikommunist ist, hat trotzdem die Sowjetregie-
rung in der Bauernschaft einen sehr beachtenswerten Rückhalt. Dies ist dar-
auf zurückzuführen: einmal hat die Enteignung der großen Güter die Bauern
von den gehaßten Groß-
grundbesitzern befreit, und
zum andern versucht die Re-
gierung alles, um den rus-
sischen Bauern praktisch und
theoretisch mit modernen
landwirtschaftlichen Metho-
den vertraut zu machen und
dadurch seinen und des gan-
zen Landes Wohlstand ent-
sprechend zu heben. Da hier
die Interessen von Bauern
und Regierung Zusammen-
gehen, ist eine starke gegen-
seitige Bindung vorhanden.
Daß die Regierung mit allen
Mitteln b estrebt ist, d en miß-
trauischen Bauern zu ge-
winnen, ist von ihrem
Standpunkt aus eine Le-
bensnotwendigkeit. Denn
Rußland ist das Land der
Bauern — achtzig Prozent
der gesamten Bevölkerung
ist bäuerlich (zum Vergleich
Deutschland: fünfundfünf-
zig Prozent Industriellevöl-
kerung), und so wird einmal
in Zukunft auf dem flachen
Lande und in der Bauern-
schaft das Schicksal entschie-
den werden. Zunächst gilt
es, Rußland auch landwirt-
schaftlich zu heben und die
vielen noch vollkommen un-
genützt daliegenden Mög-
lichkeiten auszuwerten. Die
ungeheuren ' Landgebiete
könnenbeiintensiverBoden-
bewirtschaftung die Korn-
kammern ganz Europas wer-
den. Man versucht durch
Anlage von Mustergütern
sowie landwirtschaftliche
Ausstellungen und Wett-
bewerbe die Bauernschaft
an intensive Bodenbewirt-
schaftung zu gewöhnen, ein
schwerer und langwieriger
Weg. Ein großer Teil der
russischen Bauern ist ungemein rückständig und hat heute noch eine Me-
thode der Feldbestellung, die derjenigen der in Deutschland vor vielen
Jahren üblichen ähnlich ist, so daß auch nicht entfernt das geerntet wird,
was möglich und für die russische Wirtschaft auch nötig wäre. Es mangelt
noch immer an landwirtschaftlichen Maschinen, an denen ein Millionen-
bedarf besteht, an einem großzügigen Ausbau der Verkehrswege, an
Bewässerungsanlagen, an ausprobiertem Saatgut und anderem mehr.
Wenn wieder einmal die früheren Austauschmöglichkeiten geschaffen sein
werden, dann ist das europäische Wirtschaftsproblem für lange Zeit gelöst.
Indem die industriellen Gebiete des Westens und die Kornkammern des
Ostens in geregeltem Güteraustausch Zusammenwirken, werden sie am
Aufbau der Wirtschaftsordnung mithelfen, um auf diese Weise die letzten
Auswirkungen der europäischen Katastrophe von 1914 bis 1918 auch im
Interesse unserer deutschen Wirtschaft zu überwinden.
Baukunst im neuen Rußland: Neubau einer Arbeiterorganisation in Moskau. (Preßphoto)
Technik, Schule, Heer und Flotte —, so geschieht es nur, um auch hier
sich auf eigene Füße zu stellen, den Europäer langsam, aber zielbewußt
aus seinem Einfluß und lange innegehabter Vormachtstellung zurückzu-
drängen, unter Umständen auszuschalten. Und alle diese Gärungen, Span-
nungen, Entwicklungen wirken heute in Rußland zusammen, und — ob mit
Recht oder Unrecht, bleibt dahingestellt — Asien in seiner Gesamtheit hofft,
in Rußland Fürsprech und SachwalterseinerneuenBestrebungen zu finden.
Die erwachenden Völker Asiens glauben, wenn Europa die Selbständig-
machung Asiens hindern sollte, daß dann unter Umständen Rußland mit
seiner Heeresmacht eintreten werde für das Eigenrecht der asiatischen Welt,
der asiatischen Kultur. Hier beginnt die uralte Spannung Ost-West sichtbar zu
werden, und indem nur kurzeZeitmühsamverhülltenGegensatz zwischen Eng-
land und Rußland, der aufs
neue aufzuflammen beginnt,
scheinen sich weltpolitische
Entscheidungen allergrößten
Ausmaßes vorzubereiten.
Trotz des Ernstes dieses
Ausblickes sind die Reali¬
täten der Gegenwart stärker
als alle Prophezeiungen der
Zukunft. Eine Frage ist vor
allem für uns in D eutsch land
brennend geworden: die
wirtschaftliche. Die gegen-
w ärtige Arb eitskris e ist sich er
nicht nur eine vorüber¬
gehende Erscheinung. Sie
beruht auf der llberindu-
strialisierung des Westens,
der bei der Erschöpfung des
inneren Marktes und den
immer enger werdenden
Absatzgebieten für seine bis
ins kleinste organisierte In¬
dustrie ständig Kanäle
braucht, um seine Erzeug¬
nisse abfließen zu lassen und
so seine Industrie lebendig
und leistungsfähig zu erhal¬
ten. Es ist deshalb eine un¬
ausweichliche Forderung,
daß der Austausch zwischen
Osten und Westen wieder in
Fluß kommt, besonders, da
Rußland als Agrarland der
beste Abnehmer unserer Jn-
dustrieerzeugnisse werden
könnte. Allerdings ist da die
Kenntnis der heutigen rus¬
sischen wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse und Probleme un¬
bedingt nötig. Zunächst ist
dazu zu sagen, daß gegen¬
wärtig Rußland ein anderes
Gesicht zeigt als zur Zeit
des furchtbaren terroristi¬
schen „Kriegskommunis¬
mus". Damals wollte man
auf dem Weg erbarmungs¬
losester Gewalt die kom¬
munistische Idee in Er-
zeugung und Verbrauch verwirklichen, ein Vorgehen, das ganz Rußland
an den Rand des Ruins gebracht hat. Damals waren auch die rücksichtslosesten
Enteignungen, die Massenverhaftungen und Massenhinrichtungen an der
Tagesordnung, wobei vor allen Dingen das Bürgertum Unendliches zu
leiden hatte. Heute ist es anders: es ist ein wesentlich gemilderter „Staats-
sozialismus" am Ruder, der durch Staatstrusts und ein wohlausgebautes
Genossenschaftswesen sein wirtschaftliches Ziel zu erreichen sucht. Auch das
Bürgertum beginnt sich wieder wirtschaftlich zubetätigen, wozu ihm immer-
hin eine beschränkte Möglichkeit gegeben ist. Denn alle Gewalt hat auch in
Rußland die „privatwirtschaftlichen" Impulse nicht gänzlich ausrotten kön-
nen, und so hat auch hier die Regierung nachgeben müssen, allerdings unter
dem starken Widerspruch einer radikalen Minderheit. Heute ist der Anteil an
der russischen Wirtschaft prozentual ausgedrückt folgender: Staatstrusts
fünfzig Prozent, gewerkschaftliche und genossenschaftliche Organisationen
fünfundzwanzig Prozent, Privatkapital ebenfalls fünfundzwanzig Prozent.
Großhandel und Großindustrie sind durchweg in Staatshand, die Enteig-
nung ist hier, wie auch bei den Wohnungen, fast restlos durchgeführt.
Die Hauptwiderstände gegen die sozialistische Wirtschaftsordnung erwuch-
sen jedoch aus der Bauernschaft, und gerade hier wurden die neuen Macht-
haber gezwungen, ihren anfänglichen Radikalismus sehr stark einzuschränken
und umzustellen. Wenn auch nominell der russische Boden heute Staats-
eigentum ist, tatsächlich ist der Bauer Alleinbesitzer. Er bebaut seinen Acker
durchaus nach „freien", also privatwirtschaftlichen Grundsätzen. Wenn auch
der Bauer durchaus kein Parteikommunist ist, hat trotzdem die Sowjetregie-
rung in der Bauernschaft einen sehr beachtenswerten Rückhalt. Dies ist dar-
auf zurückzuführen: einmal hat die Enteignung der großen Güter die Bauern
von den gehaßten Groß-
grundbesitzern befreit, und
zum andern versucht die Re-
gierung alles, um den rus-
sischen Bauern praktisch und
theoretisch mit modernen
landwirtschaftlichen Metho-
den vertraut zu machen und
dadurch seinen und des gan-
zen Landes Wohlstand ent-
sprechend zu heben. Da hier
die Interessen von Bauern
und Regierung Zusammen-
gehen, ist eine starke gegen-
seitige Bindung vorhanden.
Daß die Regierung mit allen
Mitteln b estrebt ist, d en miß-
trauischen Bauern zu ge-
winnen, ist von ihrem
Standpunkt aus eine Le-
bensnotwendigkeit. Denn
Rußland ist das Land der
Bauern — achtzig Prozent
der gesamten Bevölkerung
ist bäuerlich (zum Vergleich
Deutschland: fünfundfünf-
zig Prozent Industriellevöl-
kerung), und so wird einmal
in Zukunft auf dem flachen
Lande und in der Bauern-
schaft das Schicksal entschie-
den werden. Zunächst gilt
es, Rußland auch landwirt-
schaftlich zu heben und die
vielen noch vollkommen un-
genützt daliegenden Mög-
lichkeiten auszuwerten. Die
ungeheuren ' Landgebiete
könnenbeiintensiverBoden-
bewirtschaftung die Korn-
kammern ganz Europas wer-
den. Man versucht durch
Anlage von Mustergütern
sowie landwirtschaftliche
Ausstellungen und Wett-
bewerbe die Bauernschaft
an intensive Bodenbewirt-
schaftung zu gewöhnen, ein
schwerer und langwieriger
Weg. Ein großer Teil der
russischen Bauern ist ungemein rückständig und hat heute noch eine Me-
thode der Feldbestellung, die derjenigen der in Deutschland vor vielen
Jahren üblichen ähnlich ist, so daß auch nicht entfernt das geerntet wird,
was möglich und für die russische Wirtschaft auch nötig wäre. Es mangelt
noch immer an landwirtschaftlichen Maschinen, an denen ein Millionen-
bedarf besteht, an einem großzügigen Ausbau der Verkehrswege, an
Bewässerungsanlagen, an ausprobiertem Saatgut und anderem mehr.
Wenn wieder einmal die früheren Austauschmöglichkeiten geschaffen sein
werden, dann ist das europäische Wirtschaftsproblem für lange Zeit gelöst.
Indem die industriellen Gebiete des Westens und die Kornkammern des
Ostens in geregeltem Güteraustausch Zusammenwirken, werden sie am
Aufbau der Wirtschaftsordnung mithelfen, um auf diese Weise die letzten
Auswirkungen der europäischen Katastrophe von 1914 bis 1918 auch im
Interesse unserer deutschen Wirtschaft zu überwinden.
Baukunst im neuen Rußland: Neubau einer Arbeiterorganisation in Moskau. (Preßphoto)