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216 -.:!!!'<!...Für unsere Frauen ÜH" :!!:»>:!!> Heft y

in Bild aus ersten Kindertagen
wacht wieder auf: es ist im Spät-
herbst, und der Wind spielt mit den
letzten gelben Kastanienblättern, da
zieht eine weihe, wogende, wat-
schelnde, schnatternde, flügelschla-
gende Schar grosser, fetter Gänse,
von einem Mann mit einem langen,
gebogenen Stab getrieben, durch die
Straßen unserer Stadt. Kein Auto,
keine Straßenbahnen, keine Motor-
räder tobten und lärmten damals.
Die allerersten Pferdebahnen, von sanften, geduldigen Apfelschimmeln ge-
zogen, bedeuteten alles für die werdende Großstadt. Die braven Pferde-
bahnschimmel samt ihren Lenkern warteten geduldig, wenn die schnatternde
Gesellschaft die Straße querte. Aus den Häusern kamen die Frauen und
Mädchen, wählten, berieten, befühlten die flügelschlagenden, ahnungsvoll
schreienden Gänse, die der Ganshirte ihnen, seinen Krummstab um die
Gänsehälse legend, einfing, wurden zuletzt Handelseins und zogen sich mit
dem armen Opfertier ins Haus zurück. Die Tür fiel zu—und das ängstliche
Schreien verstummte bald. Im Hof oder in der Küche wurde, in hölzernem
Ställchen, das Flügeltier noch ein Weilchen gefüttert. Grausame, auf fetten
Braten und leckere Gänseleber besonders eingeschworene Köchinnen stopften
das bedauernswerte Geschöpf, das sie in so engem Gewahrsam hielten, daß
es sich nicht rühren konnte. Menschlicher Gesinnte ließen ihm, zur Freude der
Kinder des Hauses, noch ein wenig Freiheit im kleinen, reblaubumsponne-
nen Hof im letzten Schein der Herbstsonne. Vis dann der für alle Gänse
so verhängnisvolle Tag des elften November nahte, an dem sie, braun und
knusperig gebraten, mit Äpfeln und Kastanien gefüllt, die Tafel zierten.
Heutzutage werden die Festtage immer rarer. Sie geraten allmählich
in Vergessenheit und mit ihnen der ganze festliche Zauber, der sie einst
umspann. Wer weiß heute noch etwas vom Martinsbusch und der Rolle,
die er früher am elften November, am Tag des heiligen Martin, spielte?
Vielleicht ist er aber trotzdem nicht ganz verschwunden — vielleicht ist er
zu einem Zweiglein unseres Weihnachtsbaumes geworden, ist in ihn
hineingeschlüpft, in ihm aufgegangen, wie so manch anderer Vorweih-
nachts- und Martinsbrauch in den späteren Weihnachtsgebräuchen aufge-
gangen ist. Auch die Martinsgans der guten alten Zeit hat sich von ihrem
ursprünglichen Schlachttag bis in die Weihnachtsfeiertage des heutigen
Lebens hinübergerettet — aus wesentlich anderen Gründen zwar, als es
bei anderen alten Gebräuchen, die mehr idealer Natur sind, geschah. Rein
sachliche, praktische, nüchtern wirtschaftliche Gründebestimmenden Gänseesser
der Jetztzeit, sein Schlachtopfer bis Weihnachten oderNeujahr aufzuschieben

Einst und jetzt / Von Hedwig Lohß
der Opfertiere—der,, Springer", das
gebogene Brustbein der „geopfer¬
ten" Martinsgans, ist eine Erinne-
rung an heidnischen Aberglauben.
Noch lange erhielt sich der Brauch,
aus der Beschaffenheit des Brust
deines abzulesen, ob ein strengeroder
milder Winter in Aussicht stehe.
Mit Doktor Martin Luther hat
aber der Martinstag und die Mar-
tinsgans rein gar nichts zu tun,
außer daß Doktor Martinus selber
zur Feier seines Geburtstages am Abend des zehnten November— an dem
von alters her die Martinsschmäuse stattfanden— eine Gans verzehrt hätte.
Wie kommt die Gans zum heiligen Martin, jenem frommen Kriegsmann
und späteren Mönch und Bischof, dessen Gedächtnistag der elfte November
ist? Sie wird nicht nur an diesem Tag als Opfertier geschlachtet, sie ist
auch dem Heiligen auf allen Bildern als Begleittier beigegeben.
Die Sage weiß mancherlei darüber zu erzählen. Der heilige Martin war
einstmals ein wackerer Kämpfer mit Schwert und Schild. Sein Arm war
fest, und er verstand die Kunst des Krieges gar wohl. Aber sein Herz war
dennoch weich und gut. Eines Tages zur Winterzeit saß ein halbnackter Bettler
an seinem Weg. Der zitterte im Frost, und die Schneeflocken lagen auf
seinen nackten Schultern. Da sprach Martinus, der Kriegsmann: „Mein
Mantel reicht für uns beide!" und zerschnitt den Mantel mit seinem
Schwert und bekleidete den frierenden Bettler am Weg mit der einen
Hälfte und hüllte sich so gut es ging in die andere und ritt weiter. In der
Nacht aber, als er auf seinem Lager ruhte, erschien ihm der Heiland der
Welt und trug das Mantelstück, das er dem Bettler gegeben, um seine
Schullern. Da ließ Martinus Schwert und Schild, sein Streitroß und
die Kampfgenossen, trat in ein Kloster ein und wurde der demütigste der
Mönche. Als die Bischofswürde seines frommen Lebens Lohn werden
sollte, da versteckte er sich, um der, wie ihn dünkte, unverdienten Ehre zu
entgehen, bei den Klostergänsen. Die aber machten ein solches Geschrei,
daß gar bald des heiligen Mannes Schlupfwinkel entdeckt und ihm trotz
seiner Weigerung doch noch die Bischofsweihe zuteil wurde.
Es gibt aber Leute, die weniger poetischen und mehr praktischen Sinnes
sind, die behaupten, es werde am Martinstag eine Gans geschlachtet und
kein Schwein und kein Kalb, einzig und allein deshalb, weil in dieser Zeit
die Gänse besonders fett und zart und wohlschmeckend seien.
Wie dem auch sei — gut schmeckt ein Gänsebraten jedenfalls, sei's nun
an Martini, am Weihnachtstag oder an Neujahr. Und es ist nicht ver-
wunderlich, daß in früheren Zeiten, da man noch mehr Wert auf die edle




und den heiligen Martin am Haus vorbei-
ziehen zu lassen, ohne ihn mit den erfreu-
lichen Geräuschen eines im eigenen Fett
brotzelnden, zischenden und dampfenden
Gänsleins zu grüßen. Er muß es sich in der
Regel genug sein lassen, im Kalender zu
stehen, und nur selten und nur noch in ganz
bestimmten Gegenden wird ihm zu Ehren
eine Gans geschlachtet. Früher war ein
Martinstag ohne Gänsebraten kaum denkbar.
Der Martinstag war ein hoher, kirchlicher
Feiertag. Da tranken Priester und Laien
gleichermaßen fleißig im neu angestochenen
„Heurigen" des heiligen Martins Minne —
wie dereinsten unsere germanischen Vor-
fahren im frischen Met Allvater Wodans
und Donars, seines starken Sohnes, Minne
tranken. An die Stelle des für die Götter
geopferten Tieres trat — der Gänsebraten,
den sich die Feiernden zum eigenen Genuß
zubereiteten. Ein hufeisenförmiges Gebäck,
Martinshörnch en genannt, nahm die Stelle
der Opferkuchen ein.
Die alten, germanischen Ahnen weis-
sagten aus dem Blut und dem Eingeweide


Kochkunst legte als heute, die Hausmutter
die Magd, die sie zu dingen im Begriffe
stand, fragte: „Kann Sie auch eine Gans
stopfen und schlachten und füllen und
braten?"
Der Martinstag war früher der allge-
mein übliche Wandertag des Gesindes. Da
schnürte die alte Magd, die im vergangenen
Dienstjahr nicht mit der Herrschaft in all-
seitiger Zufriedenheit lebte, ihr Bündel,
und die neue zog ein. So konnte sie gleich
beim Braten der Martinsgans zeigen, was
sie verstand.
Mannigfaltig sind die Rezepte, wie eine
Gans schmackhaft zuzubereiten ist. Da gibt
es gebratene Gans mit Quitten, junge
Gans in Olivensoße, Gans mit Kastanien,
mit Trüffeln, mit Madeiratunke, es gibt
gesülzte Gans, dann Gansleber auf alle lei
Arten, Gansleberwürste und Gansleber-
pastete, Gänseklein und — nicht zu ver-
gessen—das Gänsefett. Viel Gutes von der
braven Gans! (Einige alterprobte Rezepte
bringt unsere Abteilung „Allerlei Nützliches
fürs Haus" auf der zweiten Umschlagseite.)

Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift untersagt / übersetzungsrecht Vorbehalten / Anschrift für Einsendungen: Schriftleitung des Buchs für Alle, Stuttgart, Eottastr. IZ, ohne Beifügung eines
Namens / Herausgegeben unter verantwortlicher Schriftleitung von Gottlob Mayer in Stuttgart / Verantwortlich für den Anzeigenteil: Georg Springer in Berlin / JnÖsterreich für
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