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Etwas, was man später nicht mehr tun kann / Dem Leben abgelauscht von A. Binder


indlichen Eigensinn und Trotz gibt es wohl in jedem Hause einmal.
Aber fast überall wird er von den Eltern nur mit heftigen Worten,
mit Drohungen und mit Schlägen bekämpft. Viel Unfrieden, viele Tränen,
viele häßliche Gedanken und Gefühle sind dadurch schon in die Familien
gekommen. Und der pädagogische Erfolg ist meist gleich Null. Gibt es kein
anderes Mittel, Eigensinn und Trotz des Kindes zu überwinden?
Eine feinsinnige Mutter berichtete mir einmal, wie sie mit einem be-
sonders krassen Trotzanfall ihres vierjährigen Buben fertig wurde: Der
Kleine ward zum Abendessen gerufen, aber er kam nicht sofort. Als er end-
lich erschien, war bereits das Tischgebet gesprochen. Er sollte nun das ihm
bekannte kurze Gebetchen für sich wiederholen. Aber er weigerte sich. Je
eindringlicher die Mutter es forderte, umso energischer wurde sein Wider-
stand. Schließlich brach er in ein eigensinniges Geschrei aus. In dieser Fa-
milie war es üblich, daß ein Kind, das sich nicht anständig bei Tische be-
nahm, vom Familientisch ausgeschlossen wurde und in der Küche essen
mußte. Also beförderte die Mutter den Kleinen nach der Küche. Dort be-
ruhigte er sich etwas. Als die Mutter nach einiger Zeit wieder hinauskam,
fand sie ein reumütiges und zerknirschtes Bübchen. „Nun, mein Herz, willst
du das Gebet nun sprechen?" — „Ja, Mutti," und gehorsam faltete er seine
Händchen. Aber er schwieg. Die Mutter nahm ihn nun auf den Schoß und
versuchte, ihn durch Güte dahin zu bringen, das Gebet zu sprechen. Uner-
müdlich sagte sie es ihm vor. Aber alles war vergeblich. Inzwischen wurde es
Schlafenszeit. Die übrigen Geschwister gingen zu Bett. Der Kleine saß
immer noch mit verweintem Gesicht in der Küche. Da die Mutter den ein-
mal gegebenen Befehl nicht zurücknehmen wollte, fing sie an, dem Buben
Strafe anzudrohen, aber auch das war erfolglos. Die Mutter war ver-
zweifelt. Was sollte sie nur noch tun? Da huschte eine Erinnerung an die
eigene Kindheit durch ihre Seele, und sie erkannte, daß ihre Strenge
und ihre Konsequenz diesmal nicht am Platze waren.
Der Kleine war seelisch aufgewühlt, der normale Verlauf seiner Seelen-
funktionen war gestört. Dazu kam seine körperliche Müdigkeit — fast jedes
Kind neigt abends leichter zu „Störrigkeit" als am Morgen. Statt dem
Jungen Zeit zu lassen, sich zu beruhigen, war sie ungeduldig auf ihn ein-
gestürmt. Dadurch mußte sich seine Aufregung und Furcht immer mehr
steigern. Und all das Fürchterliche in seiner Seele war eng verknüpft mit
den Worten „Komm, Herr Jesu!". Diese Worte bedeuteten in diesem Zu-
stand größter seelischer Erregung eine Hemmung, die der Kleine noch nicht

überwinden konnte. Das alles empfand die verständige Mutter in diesem
Augenblick. Und was tat sie nun? Hören wir sie selbst: „Ich zog den Kleinen
in meine Arme. Mein Kind, wollen wir mit der zweiten Zeile anfangen:
Sei unser Gast?' -— ,Ja, Mutti/ Ganz verklärt faltete er seine Händchen
und betete: »Sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast/ Der
Bann war gebrochen, und seine Augen strahlten mich an, rührend dankbar
dafür, daß mir das Verständnis für seine innere Not aufgegangen war."
Solange der Zorn in der Mutter Seele loderte, war in des Kindes
Seele ebenfalls Erbitterung und Widerstand bis zum Äußersten. Als aber
die Mutter sich überwunden hatte, als Liebe und Verstehen in ihr Herz ein-
zogen, da verschwand auch im Kinde der Trotz und das Widerstreben. Ist
es nicht immer so Zwischen zwei Menschen, die zueinander gehören? Un-
freundlichkeit und Heftigkeit auf der einen Seite löst auf der anderen Seite
stets entsprechende Gefühle aus — selbst wenn sich die lieblose Gesinnung
noch nicht in Worten geäußert hat. Man möchte manchmal wirklich glau-
ben, daß in solchen Augenblicken die Seelen unmittelbar in Verbindung
stehen, so daß der Zorn in der einen Brust, schon bevor er sich Luft macht,
die Seele des andern trübt. Geht dagegen in der Seele des einen die wahre
Liebe und Güte auf, dann wird es auch in der Seele des anderen allmäh-
lich hell und licht. Es bedarf dazu gar keiner Worte. Je mehr ich die Menschen
in ihrem Tun und Lassen, in ihrem Lieben und Hassen beobachte, umso
mehr finde ich das bestätigt. Der ewige Goldgrund der allgemeinen Welt-
ordnung schimmert uns hier entgegen: Das Böse läßt sich nur durch das
Gute überwinden. Trotz und Eigensinn sind etwas Niederes, etwas Böses.
Durch Zorn und Wut — also wieder durch etwas Böses — kann man sie
nicht vertreiben. Nur durch etwas Höheres, durch etwas Gutes läßt sich
das Niedere besiegen: eben durch echte und wahre Liebe.
Also, ihr Eltern, wenn Eigensinn und Trotz in euren Kindern aufflammt,
dann nehmt euer Herz und eure Zunge in acht, damit sie euch nicht durch-
gehen! Und dann drückt allen Zorn und alles Niedere in eurem Herzen zu
Boden, damit wahre Liebe in ihm Raum gewinne! Sie ist das Höchste,
das Göttlichste in dieser Welt. Habt Mitleid und Erbarmen mit eurem
Kind, wenn Trotz in ihm wütet. Bedenkt, daß in solchen Stunden das Böse
Gewalt gewonnen hat über seine Seele und daß ihr, seine Eltern, ihm
helfen müßt, aus dieser Not herauszukommen. Mitleid ist der Anfang der
Liebe. Wenn ihr seinen Trotz als ein Leid betrachten könnt, seid ihr auf
dem richtigen Wege, ihm aus dem Dunkel und der Tiefe herauszuhelfen.
 
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