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Das Buch für Alte
Heft 26
Um sie rauschte der Wald. Die Herbstsonne glitt über besonnte
Stämme und dunkelgrüne Wipfel. Von der Wiese her drang das
Fallen und Ächzen des sterbenden Holzes zu ihnen hinüber.
Werden und Vergehen, Tod und Auferstehen reichten sich die
brüderlichen Hände.
Sie aber hörte davon wenig. Nur das Singen und Schwingen
ihres Blutes hörte sie und den schnelleren Schlag ihres Herzens.
Und dann mit einem Male war es wieder, als stockte das alles
in ihr.
„Wenn es Ihnen recht ist, setzen wir uns hier ein wenig nieder,"
sagte sie nach einer längeren Pause. „Ich habe den ganzen Morgen
gestanden, und das hat mich wohl müde gemacht."
Sie saßen auf dem weich schimmernden Stamm einer gefällten
Birke. Um sie war alles Schweigen und tiefe Waldeinsamkeit.
„Als ich hierher kam," sagte er, als wäre er ihr eine Erklärung
schuldig, „erschien mir alles fremd und Sie am meisten. Ja, oft
war mir, als läge etwas Feindliches zwischen uns. Aber der Weg,
den die Seelen nehmen, ist wunderbar und verborgen, und das
Nahekommen einem anderen Menschen bedeutet immer einen
Irrtum --- oder ein großes Glück ... manchmal wohl auch ein
unentrinnbares Verhängnis. Vielleicht war es beides bei mir.
Und das macht mir das Scheiden jetzt so schwer."
Eine so schlichte Offenheit lag in seinem Bekenntnis, daß sie
tief in ihr Herz griff. Zugleich aber wehrte sie sich gegen die auf-
steigende Bewegung.
„Es mag mir an dem rechten Glauben fehlen," erwiderte sie
langsam, ganz in sich versunken, „wie Sie esja oftgesagtund getadelt
haben ... in jeder Beziehung. Ich fürchte, so tiefe Gemeinschaft,
wie wir sie möchten und ersehnen, gibt es zwischen Menschen
nicht. Sie ist ein Rausch oder ein Traum und verfliegt schnell.
Manches Menschenleben, einmal uns nahe und verwandt, er-
ledigt sich schnell, und um das Band, das uns mit ihm verbunden,
schlingt sich bald ein neues Leben."
Dachte sie an Leo Lawell, als sie das sagte? Oder entsprang
es dem Empfinden und Erfahren dieser Stunde?
Er wußte es nicht, aber in dem Blick, den er zu ihr hinüber-
sandte, war etwas Fragendes, faßt Zweifelndes.
„So können Sie vielleicht urteilen, die Sie die Welt und die
Menschen anders kennen und wohl auch anders sehen als ich," sagte
der Pfarrer nach einer nachdenklichen Pause und fuhr fort: „In
mir war bisher alles leer und still. Es war wie ein unbeschriebenes
Buch. Oder ein Buch, in dem gewiß manches stand; doch es war
immer nur Gelerntes, Erworbenes oder Gebote der Pflicht, des
Amtes, wohl auch etwas von der großen Gottes- und Menschen-
liebe, die immer in mir war. Aber von dem Augenblicke an, wo
ich Sie sah, da war alles anders ... Vieles ausgelöscht, vieles
ganz neu geworden. Eine Welt, wie ich sie nie gekannt, nicht ein-
mal geahnt, stieg in mir aus, Wünsche und Kräfte regten sich, die
ich vordem nie gespürt, Quellen
der Freude und des Glückes be¬
rauschten mich, daß ich mich oft
an den Kopf fassen mußte, um
mich zu fragen: Ob ich derselbe
Mensch noch war, der ich einmal
gewesen? Keiner kann diese Ver¬
änderungbemerkt hab en wie Sie.
Ja, Sie haben es gefühlt, wie
in unserem Zusammensein mein
ganzes Wesen freier und unge-
bundener wurde, meine Arbeit
und mein Wirken neue Züge an¬
nahmen —"
„Ich habe es wohl gemerkt—"
Wieder sagte sie es ganz lang¬
sam, ganz in sich hinein.
„Und wenn ich jetzt von Ihnen
gehe, und die Brücken werden
abgebrochen, und keine führt zu
Ihnen zurück— ja, verstehen Sie
nicht, daß das alles dann vorbei ist und das Alte wiederkehrt?
Denn ein Mensch wie ich, immer auf sich gewiesen, immer ab-
seits vom Leben, der schließt sich so leicht nicht mehr an, der liebt
auch nicht, wie vielleicht ein anderer mal die und jene ... der
liebt nur einmal, wie ich Sie geliebt habe, Kitty, und Sie immer
lieben werde."
Seine Hand streckte sich der ihren entgegen; sie ließ sie ihm.
Sein junges warmes Blut pulsierte in seinen Worten, und sie
fühlte wohl, daß er sie in das Innerste seiner Seele geführt hatte.
Sie blickte ihn an, und ein unnennbarer Ausdruck war in ihrem
Gesicht, hatte jede Linie weich gemacht und verändert.
Da zog er sie an seine Brust. Und über ihnen blaute der Himmel
wie ein Baldachin von gespannter Seide. Und der Wald grüßte
sie mit duftdurchwürztem Rauschen, und durch die Aste und
Zweige der Bäume, die sich hie und da mit leichtem Bunt schon
schmückten, funkelte ein ganzes Heer von Fünkchen und Feuern,
die die Herbstsonne in ihnen entzündet hatte. Und alles war Licht
und Leuchten und Leben.
Aber dann zog eine Wolke am Himmel auf, zuerst zart wie ein
perlgrauer Hauch, dann ins Dunkle wachsend, nun war alles wie
verändert, Schatten glitten durch die Büsche, jagten sich, fanden
sich; der Wald lag stumm und starr wie ein Leichnam.
Sie hatte sich aus seinen Armen gelöst, der Glanz in ihren
Augen war tiefer geworden.
„Und doch ... das alles, so schön es ist, es ist ja nur ein Traum."
„Es war ein Traum — nun ist es Wirklichkeit geworden."
„Nein ... nie Wirklichkeit! Wissen Sie denn nicht, daß ich ge-
bunden bin?"
„Gebunden?" fragte er, und ein großes Erschrecken war in
seinen Worten. „An wen?"
„An keinen Menschen. Aber an Berghof. Und das ist mehr."
„Wenn die Liebe in Ihnen wohnt, dann wird sie stärker sein
als ein Testamentsparagraph."
Sie schüttelte den Kopf langsam und traurig. Aber kein Wort
kam von ihren Lippen. Wie war das alles ähnlich und doch so ganz
anders wie damals, als Leo Lawell dasselbe von ihr forderte. Wie
selbstverständlich erschien ihr damals ihre Ablehnung -— wie un-
säglich schwer wurde sie ihr jetzt!
„Daß es ein Hindernis sein würde," fuhr er fort, „darüber war
ich mir klar. Aber kein unüberwindliches."
„Doch ... ein unüberwindliches," sagte sie langsam und schwer.
„Erst war es ein Zwang, der von außen kam, gegen den ich mich
auflehnte. Jetzt ist es ein Gebot, das von innen kommt und viel
dringender und zwingender ist, als das von außen."
„Ein Besitztum, das nur mit den größten Opfern gehalten
werden kann —"
„Das ist es ja gerade," unterbrach sie ihn, und der Schmerz,
mit dem sie es tat, hatte etwas Leidenschaftliches. „Vielleicht -—
ich weiß es nicht, ich kann es in
diesem Augenblick nicht mit Be-
stimmtheit sagen — damals, als
es reich und blühend dastand —
ja, ich hätte es dem Manne, den
ich liebte, geopfert — heute kann
ich es nicht."
„Heute—können Sie es nicht?"
„Nein ... heute nicht mehr.
Ich bin an dies Berghof gebun-
den mit meinem ganzen Sein.
Und es jetzt, wo es in Not ist, wo
ich um jedes Stück Erde, um
jeden Schritt auf ihm kämpfen
muß, zu verlassen, das erschiene
mir Feigheit und Fahnenflucht.
Alles in mir lehnt sich dagegen
auf. Nicht nur die Liebe — die
Pflicht hält mich hier. Und keiner
wird das besser verstehen als
Sie." (Fortsetzung folgt)
Kinder der Sonne
Nach einem künstlerischen Lichtbild von Martha Wider, St. Gallen
Das Buch für Alte
Heft 26
Um sie rauschte der Wald. Die Herbstsonne glitt über besonnte
Stämme und dunkelgrüne Wipfel. Von der Wiese her drang das
Fallen und Ächzen des sterbenden Holzes zu ihnen hinüber.
Werden und Vergehen, Tod und Auferstehen reichten sich die
brüderlichen Hände.
Sie aber hörte davon wenig. Nur das Singen und Schwingen
ihres Blutes hörte sie und den schnelleren Schlag ihres Herzens.
Und dann mit einem Male war es wieder, als stockte das alles
in ihr.
„Wenn es Ihnen recht ist, setzen wir uns hier ein wenig nieder,"
sagte sie nach einer längeren Pause. „Ich habe den ganzen Morgen
gestanden, und das hat mich wohl müde gemacht."
Sie saßen auf dem weich schimmernden Stamm einer gefällten
Birke. Um sie war alles Schweigen und tiefe Waldeinsamkeit.
„Als ich hierher kam," sagte er, als wäre er ihr eine Erklärung
schuldig, „erschien mir alles fremd und Sie am meisten. Ja, oft
war mir, als läge etwas Feindliches zwischen uns. Aber der Weg,
den die Seelen nehmen, ist wunderbar und verborgen, und das
Nahekommen einem anderen Menschen bedeutet immer einen
Irrtum --- oder ein großes Glück ... manchmal wohl auch ein
unentrinnbares Verhängnis. Vielleicht war es beides bei mir.
Und das macht mir das Scheiden jetzt so schwer."
Eine so schlichte Offenheit lag in seinem Bekenntnis, daß sie
tief in ihr Herz griff. Zugleich aber wehrte sie sich gegen die auf-
steigende Bewegung.
„Es mag mir an dem rechten Glauben fehlen," erwiderte sie
langsam, ganz in sich versunken, „wie Sie esja oftgesagtund getadelt
haben ... in jeder Beziehung. Ich fürchte, so tiefe Gemeinschaft,
wie wir sie möchten und ersehnen, gibt es zwischen Menschen
nicht. Sie ist ein Rausch oder ein Traum und verfliegt schnell.
Manches Menschenleben, einmal uns nahe und verwandt, er-
ledigt sich schnell, und um das Band, das uns mit ihm verbunden,
schlingt sich bald ein neues Leben."
Dachte sie an Leo Lawell, als sie das sagte? Oder entsprang
es dem Empfinden und Erfahren dieser Stunde?
Er wußte es nicht, aber in dem Blick, den er zu ihr hinüber-
sandte, war etwas Fragendes, faßt Zweifelndes.
„So können Sie vielleicht urteilen, die Sie die Welt und die
Menschen anders kennen und wohl auch anders sehen als ich," sagte
der Pfarrer nach einer nachdenklichen Pause und fuhr fort: „In
mir war bisher alles leer und still. Es war wie ein unbeschriebenes
Buch. Oder ein Buch, in dem gewiß manches stand; doch es war
immer nur Gelerntes, Erworbenes oder Gebote der Pflicht, des
Amtes, wohl auch etwas von der großen Gottes- und Menschen-
liebe, die immer in mir war. Aber von dem Augenblicke an, wo
ich Sie sah, da war alles anders ... Vieles ausgelöscht, vieles
ganz neu geworden. Eine Welt, wie ich sie nie gekannt, nicht ein-
mal geahnt, stieg in mir aus, Wünsche und Kräfte regten sich, die
ich vordem nie gespürt, Quellen
der Freude und des Glückes be¬
rauschten mich, daß ich mich oft
an den Kopf fassen mußte, um
mich zu fragen: Ob ich derselbe
Mensch noch war, der ich einmal
gewesen? Keiner kann diese Ver¬
änderungbemerkt hab en wie Sie.
Ja, Sie haben es gefühlt, wie
in unserem Zusammensein mein
ganzes Wesen freier und unge-
bundener wurde, meine Arbeit
und mein Wirken neue Züge an¬
nahmen —"
„Ich habe es wohl gemerkt—"
Wieder sagte sie es ganz lang¬
sam, ganz in sich hinein.
„Und wenn ich jetzt von Ihnen
gehe, und die Brücken werden
abgebrochen, und keine führt zu
Ihnen zurück— ja, verstehen Sie
nicht, daß das alles dann vorbei ist und das Alte wiederkehrt?
Denn ein Mensch wie ich, immer auf sich gewiesen, immer ab-
seits vom Leben, der schließt sich so leicht nicht mehr an, der liebt
auch nicht, wie vielleicht ein anderer mal die und jene ... der
liebt nur einmal, wie ich Sie geliebt habe, Kitty, und Sie immer
lieben werde."
Seine Hand streckte sich der ihren entgegen; sie ließ sie ihm.
Sein junges warmes Blut pulsierte in seinen Worten, und sie
fühlte wohl, daß er sie in das Innerste seiner Seele geführt hatte.
Sie blickte ihn an, und ein unnennbarer Ausdruck war in ihrem
Gesicht, hatte jede Linie weich gemacht und verändert.
Da zog er sie an seine Brust. Und über ihnen blaute der Himmel
wie ein Baldachin von gespannter Seide. Und der Wald grüßte
sie mit duftdurchwürztem Rauschen, und durch die Aste und
Zweige der Bäume, die sich hie und da mit leichtem Bunt schon
schmückten, funkelte ein ganzes Heer von Fünkchen und Feuern,
die die Herbstsonne in ihnen entzündet hatte. Und alles war Licht
und Leuchten und Leben.
Aber dann zog eine Wolke am Himmel auf, zuerst zart wie ein
perlgrauer Hauch, dann ins Dunkle wachsend, nun war alles wie
verändert, Schatten glitten durch die Büsche, jagten sich, fanden
sich; der Wald lag stumm und starr wie ein Leichnam.
Sie hatte sich aus seinen Armen gelöst, der Glanz in ihren
Augen war tiefer geworden.
„Und doch ... das alles, so schön es ist, es ist ja nur ein Traum."
„Es war ein Traum — nun ist es Wirklichkeit geworden."
„Nein ... nie Wirklichkeit! Wissen Sie denn nicht, daß ich ge-
bunden bin?"
„Gebunden?" fragte er, und ein großes Erschrecken war in
seinen Worten. „An wen?"
„An keinen Menschen. Aber an Berghof. Und das ist mehr."
„Wenn die Liebe in Ihnen wohnt, dann wird sie stärker sein
als ein Testamentsparagraph."
Sie schüttelte den Kopf langsam und traurig. Aber kein Wort
kam von ihren Lippen. Wie war das alles ähnlich und doch so ganz
anders wie damals, als Leo Lawell dasselbe von ihr forderte. Wie
selbstverständlich erschien ihr damals ihre Ablehnung -— wie un-
säglich schwer wurde sie ihr jetzt!
„Daß es ein Hindernis sein würde," fuhr er fort, „darüber war
ich mir klar. Aber kein unüberwindliches."
„Doch ... ein unüberwindliches," sagte sie langsam und schwer.
„Erst war es ein Zwang, der von außen kam, gegen den ich mich
auflehnte. Jetzt ist es ein Gebot, das von innen kommt und viel
dringender und zwingender ist, als das von außen."
„Ein Besitztum, das nur mit den größten Opfern gehalten
werden kann —"
„Das ist es ja gerade," unterbrach sie ihn, und der Schmerz,
mit dem sie es tat, hatte etwas Leidenschaftliches. „Vielleicht -—
ich weiß es nicht, ich kann es in
diesem Augenblick nicht mit Be-
stimmtheit sagen — damals, als
es reich und blühend dastand —
ja, ich hätte es dem Manne, den
ich liebte, geopfert — heute kann
ich es nicht."
„Heute—können Sie es nicht?"
„Nein ... heute nicht mehr.
Ich bin an dies Berghof gebun-
den mit meinem ganzen Sein.
Und es jetzt, wo es in Not ist, wo
ich um jedes Stück Erde, um
jeden Schritt auf ihm kämpfen
muß, zu verlassen, das erschiene
mir Feigheit und Fahnenflucht.
Alles in mir lehnt sich dagegen
auf. Nicht nur die Liebe — die
Pflicht hält mich hier. Und keiner
wird das besser verstehen als
Sie." (Fortsetzung folgt)
Kinder der Sonne
Nach einem künstlerischen Lichtbild von Martha Wider, St. Gallen