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Auf der Spitze des Gratturms. (Phot. E. Meerkämper)

Heft 26
Der Schnee hält. Wenigstens
widersteht er einemwiederholten
Versuch, ihn loszutreten. Außer¬
dem führt von einem der Vor¬
tage her noch die deutliche Sitz¬
spur einer Abfahrt hinab. Und
endlich kenne ich ja das Gelände
von früher. Wenn etwas los¬
geht, dann kann es uns wohl
mitnehmen, aber drunten auf
der wagrechten Firnstufe, über
dem Hängegletscher wird alles
friedlich zur Ruhe kommen. Kei¬
nesfalls kann es uns in die Wand
hinauswerfen.
Und man einigt sich. Also los!
Wir sitzen ab und rutschen
los, des noch zu überfahrenden
Schrundes wegen am Seil. Es
glitscht prächtig. Famos!
Da — Höllenteufel! Das
rutscht ja alles — der Hang —
der ganze Berg fast — scheint
es! Der schmierige Schneebrei
hat uns betrogen!
Ich schaue blitzschnell um und
hin und her: der ganze Hang
marschiert! Lawine!
Ich reiße mich hoch und brülle:
„Halt!"
Ich ramme den Pickel ein und
stehe — stehe wie Eisen. An mir
vorbei braust das weiße schlam-
mige Element. Der dritte scheint
auch Fuß zu fassen. Aber der
Mittelmann saust weiter, das
Seil strafft sich wie ein singen¬
der Draht und reißt mich her-
aus ... ein Wicht.
Fort wirble ich ...
Und fasse wieder Stand!
Glaube mich ein zweitesmal ge¬
rettet. Das Seil zerrt und rupft,
als hinge der Berg mir am Leib.
Aber ich stehe... stehe... bis ... bis mir die Laue wie eine große Katze
mit Zentnern und Aberzentnern nasser Schneeklötze ins Genick springt,
daß ich dahinwirble wie ein Stäubchen — ein Nichts.
Kopfüber — kopfunter ... hoch im Bogen. Geschoben ... gedrückt und
geworfen — geschleudert. Pickel fort ... Brille fort ... Hut fort ...
Weiter ... kopfüber ... kopfunter. Der festgeschnallte Rucksack schlägt wie
ein Wilder auf mich ein—die verbeulten, ja zersprengten Büchsen in seinem
Innern sprachen später Bände! —
Aber immer bin ich Herr meiner Sinne und denk nur, wie zu helfen sei.
Immer denke ich an die Kameraden ...? Die Kameraden ...? ...! Wo
mögen sie sein ...?
Weiter — kopfüber — kopfunter ... toller Wirbel... Licht und Nacht
... Schnee und Luft wechseln. Dann ein heftiger
Ruck. Die Laue staut sich steil in die Höhe und
rauscht ächzend auf.
... Ruhe...
Ich reiße mich hoch und stehe bis zu den Hüften
im Schnee: „Hallo ... Oskar!!?... Reinhard!...?"
Da, Gott sei Dank... Oskar rappelt sich aus dem
Schnee. Er macht ein etwas dummes Gesicht, was
man ihn: sicher nicht verargen kann. Ich muß lachen.
Da lacht er auch. Er ist heil. Nur von den Steig-
eisen hat er einen Stich im Arm.
„Macht nir — rein äußerlich!"
Reinhard sitzt etwas weiter oben im Schnee und
puddelt sich raus — ein wenig still, wie mir scheint.
Auch er ist heil, sagt er, außer einer Prellung an
einem Stein, der, lose im Schnee liegend, ihn
schon vor der Abfahrt zu einer vorsichtigen Mah-
nung veranlaßt hatte.
Mehr als dies bedrückt ihn, den Mittelmann, das
unter dem ungeheuren doppelten Zug stark zusam-

mengeschnürte Seil, das wir kaum zu lösen vermögen. Er bedarf einiger
Zeit, um sich von dem Schock zu erholen.
Indessen zieht wieder eine dunkle Wolke herauf. Wir klauben unser Zeug
zusammen aus der Lawine. Sie war auf der Firnebene zu unserm Glück
zur Ruhe gekommen.
Mit einer bewundernswerten Tatkraft reißen sich die zwei jungen Ka-
meraden zusammen, und wir treten unter dem drohenden Gewölks, das
einige Graupeln herabschüttet, wieder den Abstieg an.
Reinhard ermannt sich und schafft den gar nicht leichten Weiterweg mit
eiserner Stärke des Willens. Das kleine Unheil hat uns plötzlich so eng zu-
sammengeschmiedet, daß wir wie Brüder sind — eine Kameradschaft voll
äußerster Notwendigkeit und innerer Liebe.
Als die Nacht mit dunklen Flügeln über das
Gebirge streicht, springen wir drunten über das
blanke Eis des großen Tschiervagletschers. Es knirscht
und kracht unter den Schuhen. Die Schmelzwasser
auf dem Eis rauschen und singen in allen Tönen,
eine wundersame Musik. Sie sammeln sich zu Gum-
pen und Eisseen, die in allen blaugrünen Tönen
glühen, indes das Eis und die Wasserspiegel im feu-
rigen Lichte der Abendwolken aufglänzen und hoch
droben erste Sterne zauberisch funkeln — nur für
uns. Unsere Blicke treffen sich manchmal.
Stramm und stark treffen uns die Bekannten, die
uns über den Gletscher entgegenkommen. Reinhard
nimmt sich zusammen wie ein Held. Unsere Müdig-
keit ist weggeblasen. Niemand ahnt, daß das Schick-
sal dicht an uns vorbeischritt.
Wir aber reichen uns vor der Hütte still die Hände
zur Kameradschaft vom Berge — dem Berge, der
hoch und dunkel am Himmel stand als ewiges Zeichen
unseres Bundes.

Scherenschnitt von Anna de Wall
 
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