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628 .Das Buch
„Latz es, Großmutter. Es hat keinen Zweck mehr. Denn selbst
wenn er wollte — ich wollte nicht. Auch das wird überwunden
werden."

(^>eden Tag, des Morgens und gegen Abend nach der Sprech-
^)stunde, machte Leo Lawell in der Begleitung seines Assisten-
ten, eines befähigten jungen Chirurgen, auf den er sich unbedingt
verlassen tonnte, seine Besuche durch die Klinik.
Zu seiner neuesten Patientin aber ging er stets allein. Immer
länger dehnten sich seine Besuche in dem freundlichen Garten-
zimmer aus, durch dessen weitgeöffnetes Fenster die noch milde
und weiche Herbstsonne ihre Grütze, die Nelken und Levkoyen
ihre würzigen Düfte sandten — und das Felicitas Tönnies zu
seinem Leide dennoch immer nur ihr Gefängnis nannte.
„Was anders bin ich hier als ein armer gefangener Vogel mit
einem kranken Flügel?" meinte sie. „Aber wenn er wieder ge-
sund ist und seine Schwingen regen kann, dann spannt er sie weit,
weit aus und fliegt durch die aufgetanen Pforten und kehrt
niemals wieder."
„Und was macht sein Wärter dann?"
„Ach der hat so viel andere schöne, bunte Vögel, datz er den
einen nicht vermissen wird."
„Aber wenn er ihn dennoch vermissen wird?"
„Ja, dann mutz er ihm nachkommen und sehen, ob er ihn wieder
einfangen kann. Etwas anderes bleibt ihm doch gar nicht übrig.
Freilich ... ob es ihm gelingen wird —?"
„Es ist ihm schon manches andere gelungen, es wird ihm auch
dies gelingen."
„Es ist wunderbar," sagte sie eines Abends zu ihm, als er mit

Lebende Buddhas. So nennen sich drei indische Tempeltänzerinnen, die
zurzeit Europa bereisen und durch ihre eigenartigen, fesselnden Tänze
Aufsehen erregen. (Phot. A.B.C.)


für l l e bft 27
ihr den Tee trank. „Jeden ereilt sein Schicksal, ob er sich noch so
sehr bemüht, ihm zu entgehen. Wissen Sie, datz ich unter keinen
Umständen nach Breitenbach gehen wollte? Und nun mutz mich
wirklich hier das Unglück treffen, und ich mutz mich wider Wunsch
und Willen in Ihre Klinik sperren lassen."
„Weshalb wollten Sie denn nicht zu uns nach Breitenbach
kommen?"
Sie zögerte einen Augenblick. „Es war wie eine Ahnung,"
sagte sie dann. „Hier in Breitenbach soll meine Mutter gelebt
haben und soll auch hier gestorben sein. Und zwar eines sehr trau-
rigen Todes."
„Wollen Sie mir nicht einmal etwas von sich erzählen?" fragte
er sie. „Ich behandle Sie jetzt bereits seit einer Woche, weitz aber
gar nichts von Ihnen."
„Sie werden deshalb nicht mehr von mir wissen. Denn bei
uns Zigeunerkindern gleicht ein Lebensgang dem anderen mit
sehr geringen Unterscheidungen."
Und mit unbekümmerter Offenheit fuhr sie fort: „Meine Eltern
habe ich kaum gekannt. Mein Vater soll ein Schauspieler von
mittelmäßiger Begabung gewesen sein, der aber Einfluß auf die
Frauen übte. Hier in Breitenbach lernte er meine Mutter kennen.
Sie gab alles für ihn auf: Mann und Haus und eine Tochter und
folgte ihm als seine Frau."
„Sie haben nie wieder von ihr gehört?"
„Sie soll später von Sehnsucht nach ihrer Tochter getrieben
nach Hause zurückgekehrt sein. Auf einer Bootfahrt mit dieser
verunglückte sie in einem See ... hier ganz in der Nähe."
Eine alte Geschichte, früher einmal vernommen, dämmerte in
ihm auf — „Hilde Buchholz," flüsterte er vor sich hin und wußte
mit einemmal, an wen sie ihn vom ersten Augenblicke an erinnert
hatte. Sie also waren Schwestern!
„Sie kennen das junge Mädchen? Es wurde damals im letzten
Augenblick gerettet, nicht wahr?"
„Ganz recht. Der Besitzer von Berghof nahm es in sein Haus
und adoptierte es später, wie ich glaube. Wenn Sie wollen, bitte
ich es einmal her."
„Ach nein ... lassen Sie das! Was für einen Zweck hätte es?
Mich kümmern diese Menschen wenig. Auch meine Mutter nicht,
die mich fremden Leuten überließ. Aber ihr tragisches Schicksal
hat mich gejammert und ist mir ein guter Lehrmeister geworden."
Sie nahm von den Brötchen, die vor ihr standen und verzehrte
sie mit sichtbarem Vergnügen.
„Sagen Sie mal," wandte sie sich dann wieder zu ihm: „Kennen
Sie auch den See, in dem dies geschah?"
„Ob ich ihn kenne! Ich reite jeden Tag zu ihm hinaus und bade
bis in den späten Herbst hinein."
Ein Frösteln schlich über ihren Körper.
„Bis in den späten Herbst hinein? Das sollten Sie nicht tun!"
„Das macht mir nichts. Ich bin's gewohnt, und es stählt die
Kräfte."
„Aber der See soll gefährlich sein."
„In dem Wahn abergläubischer Menschen, sonst nicht. Wenn
Sie wieder gesund sind, werden wir zu ihm hinausfahren, oder
wenn Sie sich auf das Reiten verstehen, besorge ich ein zweites
Pferd. Auch ein Boot habe ich draußen, da können Sie rudern
und segeln —"
„Nein nein!" rief sie, die beiden Hände abwehrend gegen ihn
streckend, „ich will nicht zu ihm hinaus, will ihn nicht sehen ...
niemals!"
Der surchterfüllte Ausdruck eines Kindes stand auf ihren Zügen
geschrieben.
„Und nun nichts mehr von dem See, in dem meine arme Mutter
ihren Tod fand. Vielleicht geht ihr Geist noch in ihm herum und
will mich nach sich ziehen. Ich glaube an solche Dinge, mögen Sie
sie auch verlachen. Wir Leute vom Theater haben alle unseren
bestimmten Glauben, und er täuscht niemals."
In dem Teekessel brodelte das Wasser. Aber sie aß und trank
nicht mehr; auch zu weiterer Erzählung schien sie nicht aufgelegt.
Erst als er in sie drang, sagte sie kurz und lässig: „Was soll ich
 
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