Annette von Droste-Hülshofs
im Alter von 20 Jahren
Lewin Schücking, der im Leben der Dichterin Annette
von Droste-Hülshoff eine tragische Rolle spielte
l i e
Torheit begehen. Vor fünf Jahren hatte Annette hier den
Ring mit dem Chrysopras verloren. Hatten bis dahin die
Worte der alten Fräulein von Sodenkerk in ihrem
Herzen wie uralte Wahrheiten nachgeklungen, so
hatte sie diesen Glauben leise entlassen, als der
Chrysopras mittwegs verloren gegangen war.
Nur den Ring mit dem Rubin trug sie noch
am Goldfinger der rechten Hand. Sie trug
ihn, wie man das tägliche Leben hinträgt.
Jahrzehntelange Gewöhnung hatte die
Hand mit dem Ring verbunden. Heute ging
die Dichterin, deren Werke einer großen
Gemeinde fromme Freude und tiefe Er-
kenntnis bescherten, unruhig einher. Der
Freund wollte kommen. Ihr Leben war
einsam geblieben, tiefstill, in sich allein
vollkommen. Nur der Freund hatte den
Pfad gefunden, der zu ihr innerlich hin-
führte. In dieser Freundschaft klang ihr
Frausein herzlich auf. Die wunderliche
Seligkeit, deren Glanz schöne Schmerzen
trübten, erfüllte sie sehr. Sie ging mit un-
sicheren Schritten, in ihrer Stimme bebte
die treibende Gewalt des Lebens, kindhaft
freute sie sich, und wartete auf den Freund.
Eigener Sehnsucht treu las sie aus seinen Augen
ihre Wünsche ab, seine Worte wurden von ihr
nachgedeutet, nachgefühlt und ihren Worten ange-
traut. Ihr letztes Zusammensein war ein großer
Jubel gewesen. Annette stand am Beginn ihres Lebens.
Alles Dichten und aller Ruhm des jeweiligen Tages, der
ihren Namen in die fremde Welt hinaustrug, wurde un-
verhofft klein und gering. Sie erkannte, daß sie zu dem
Ruhme nur als ersehntem Tröster geflüchtet war, weil sie
am Leben hingehen mußte, wie ein Wallfahrer am blühen-
den Garten vorbeischreitet. Und nun stand sie auch an der Pforte dieses
Gartens, nun wartete sie, daß der Freund kommen möge und sie hinein-
führe. Wie mitleidig waren die Blicke, die über die Papiere hinflogen,
drauf in zierlichen Buchstaben ihre Sehnsucht sich ausgeweint hatte. Sie
sah sich eifrig daran arbeiten, sie sah sich selbst wie eine fremde Frau am
Tische gelehnt, sah sich einsam, dem Ruhme hingegeben und unendliches
Mitleid mit sich selbst erfüllte sie. Rasch
ging sie von den quälenden Gedanken fort,
trat auf die Terrasse hinaus, sie sah er-
wartend ins Land hinein. Die Sonne um-
wärmte sie, ein dunkles Tuch hing über
ihrem Scheitel, die gelockten Haare fielen
bis tief auf die Schultern nieder, die Au-
gen wanderten, die Hände schritten ihnen
nach, indessen ihre Sehnsucht schon lange
bei dem Reisenden saß, seine Hände faßte
und ihn grüßte: „Freund, so kommst du
endlich, meine Herrin verzehrt sich nach
dir, denn du sollst ihr das Leben bringen."
Und Annette stand auf der Terrasse,
eine ferne Staubwolke zeigte die nahe
Ankunft des lieben Gefährten an. Sie
atmete tief auf, hinhuschend fiel ihr Blick
über die Hand, hing fest, erzitterte: Der
Ring mit dem Rubin fehlte ...
Gudrun von Sodenkerk hatte gesagt:
„... du wirst ihn verlieren, ohne es zu
wissen, wenn deine Sehnsucht auf der
Welt eine Heimat findet."
Tränen der Freude trug Annette in den
Augen, als sie nun dem geliebten Gaste
über die breiten Stufen der Terrasse hin
entgegenschritt.
Man redete viel über den Besuch. Nie-
mand aber wagte ein übles Wort. Annette
stand mitten im Sommer ihres Lebens.
Der Freund wohnte nun schon die vierte
Woche bei ihr. Die Abende wurden am
Spinett verbracht, man plauderte über
die Kunst, und Annette, die kluge Frau,
bewegte alle Worte des Freundes solange,
Heft L 7 T
zu den Kindern hinübergeblickt hatte, die in die Christnacht
gehen durften, während sie sich mit dem Baume in der
Halle begnügen mußte. Sie streckte die schmalen, wei-
ßen Finger aus, als sie über das Land hinrief, und
nicht wußte warum. Die wärmende Seligkeit
dieses Sommers erschreckte sie durch die Bunt¬
heit der Gaben. Unergründliche Sehnsucht trank
ihr Herz leer, die Sonnenstrahlen waren Lan¬
zen, die der neue Tag wider sie warf, also,
daß sie hundertfach verwundet wurde. Die
Schönheit zerfloß im satten Blühen der
Heide, fremder Schmerz zuckte wie kleine
Flammen an allen Enden auf, bis sie die
Hände abwehrend entgegenhielt. Flam¬
men umloderten sie, blendeten die Augen,
wie gepeinigt riefen die Augen um Hilfe.
Die Wunder des Lebendigseins beschütte¬
ten sie mit allen schmerzhaften Empfin¬
dungen. Da wandte sich ihr Herz, sie drückte
sich ins warme Gras, krallte die Hände tief
in den Sommerboden und weinte. Die Trä¬
nen wurden sanft tröstende Mutterworte.
Und alltäglich ging Annette an den Moor¬
rand, an den Saum der blühenden Heide, sie
sah immer wieder fern die Menschen auf den
Brücken stehen, weit, in einem Lande, das kaum
ihre Träume erreichten. Mühsam kämpfte sie,
furchtsam lauschte sie auf die Lieder, die aus ihrem
Blut heraussangen, die aber auch aus der Erde auf-
steigen mochten. Und in einer furchtbar schmerzhaften
Sommernacht stand sie vom Lager auf, zündete den Leuchter
an und saß am Fenster. Silberne Sterne umstanden den
Mond. Die Dunkelheit war tief und kühl. Da erhob sich
Annette, öffnete das Fenster und stand wie am Ufer eines
Meeres. In goldenem Becher reichte sie diesem Meere ihre
Schmerzen dar, ein Geschenk. Ihr war, als schütte sie allen Gesang, den
das Leben in tiefer Not aus ihrem Herzen gelockt hatte, in dieses Meer.
Und eine tiefe Verklärung blieb in ihrer Seele zurück. Sie zog die Hände
aus der kühlen Nacht wieder zurück, schloß das Fenster und saß bei dem
Leuchter. Die Feder knisterte mit weichem Kiele über das Papier. Annette
schrieb ein Gedicht, sie gab ihrem Schmerz ein Leben. Und als sie den Worten
noch einmal nachging, wie man Kindern
wohl nachgeht, die man zum ersten Male
wandernd durch die Nähe sendet, da zit¬
terte das Auge über ihrer Hand. Sie er¬
schrak so, daß sie aufschrie. Der Ring mit
dem Smaragd fehlte am dritten Finger
ihrer linken Hand. Sie durchsuchte ihr
Zimmer, die Kerze wanderte wohl um
eine Stunde unermüdlich hin und her.
Sie fand den Ning nicht wieder. Am
nächsten Tage suchten die Beschließerin
und alle, die dem Schlosse innewohnten,
den schmalen Gang ab, der unter diesem
Fenster zwischen Schloßmauer und Wall¬
graben hinführt. Der Ring mußte in das
dunkle Wasser gefallen sein, während seine
Hüterin die Hände in erlösendem Gebet
in die Nacht hinausgestreckt hatte.
Nahe den Bergen wachte ein schloß-
haftes Haus über das zu seinen Füßen
hinfließende Land. Der schmale über-
ragende Turm war wie die Hellebarde des
steinernen Hüters. Annette lebte im frü-
hen Mittag ihres Lebens. Ihr Weg war
versonnen, ihre Hoffnung war Herrin
eines weltfernen Landes. Die Augen be-
gegneten dem Leben wie einem Freunde,
in dessen Armen die Sehnsucht schon früh
gestorb en ist. Ihre Hände flackerten manch¬
mal. So ein Handflackern ist immer ein
verschwiegener Schrei. Nur wenige Hände
dieser Welt haben die kostbare Gabe, dem
Herzen seine Mühen abzunehmen. So
ein Handflackern ist immer ein Nach-
schauen, daß des Herzens Träume keine
im Alter von 20 Jahren
Lewin Schücking, der im Leben der Dichterin Annette
von Droste-Hülshoff eine tragische Rolle spielte
l i e
Torheit begehen. Vor fünf Jahren hatte Annette hier den
Ring mit dem Chrysopras verloren. Hatten bis dahin die
Worte der alten Fräulein von Sodenkerk in ihrem
Herzen wie uralte Wahrheiten nachgeklungen, so
hatte sie diesen Glauben leise entlassen, als der
Chrysopras mittwegs verloren gegangen war.
Nur den Ring mit dem Rubin trug sie noch
am Goldfinger der rechten Hand. Sie trug
ihn, wie man das tägliche Leben hinträgt.
Jahrzehntelange Gewöhnung hatte die
Hand mit dem Ring verbunden. Heute ging
die Dichterin, deren Werke einer großen
Gemeinde fromme Freude und tiefe Er-
kenntnis bescherten, unruhig einher. Der
Freund wollte kommen. Ihr Leben war
einsam geblieben, tiefstill, in sich allein
vollkommen. Nur der Freund hatte den
Pfad gefunden, der zu ihr innerlich hin-
führte. In dieser Freundschaft klang ihr
Frausein herzlich auf. Die wunderliche
Seligkeit, deren Glanz schöne Schmerzen
trübten, erfüllte sie sehr. Sie ging mit un-
sicheren Schritten, in ihrer Stimme bebte
die treibende Gewalt des Lebens, kindhaft
freute sie sich, und wartete auf den Freund.
Eigener Sehnsucht treu las sie aus seinen Augen
ihre Wünsche ab, seine Worte wurden von ihr
nachgedeutet, nachgefühlt und ihren Worten ange-
traut. Ihr letztes Zusammensein war ein großer
Jubel gewesen. Annette stand am Beginn ihres Lebens.
Alles Dichten und aller Ruhm des jeweiligen Tages, der
ihren Namen in die fremde Welt hinaustrug, wurde un-
verhofft klein und gering. Sie erkannte, daß sie zu dem
Ruhme nur als ersehntem Tröster geflüchtet war, weil sie
am Leben hingehen mußte, wie ein Wallfahrer am blühen-
den Garten vorbeischreitet. Und nun stand sie auch an der Pforte dieses
Gartens, nun wartete sie, daß der Freund kommen möge und sie hinein-
führe. Wie mitleidig waren die Blicke, die über die Papiere hinflogen,
drauf in zierlichen Buchstaben ihre Sehnsucht sich ausgeweint hatte. Sie
sah sich eifrig daran arbeiten, sie sah sich selbst wie eine fremde Frau am
Tische gelehnt, sah sich einsam, dem Ruhme hingegeben und unendliches
Mitleid mit sich selbst erfüllte sie. Rasch
ging sie von den quälenden Gedanken fort,
trat auf die Terrasse hinaus, sie sah er-
wartend ins Land hinein. Die Sonne um-
wärmte sie, ein dunkles Tuch hing über
ihrem Scheitel, die gelockten Haare fielen
bis tief auf die Schultern nieder, die Au-
gen wanderten, die Hände schritten ihnen
nach, indessen ihre Sehnsucht schon lange
bei dem Reisenden saß, seine Hände faßte
und ihn grüßte: „Freund, so kommst du
endlich, meine Herrin verzehrt sich nach
dir, denn du sollst ihr das Leben bringen."
Und Annette stand auf der Terrasse,
eine ferne Staubwolke zeigte die nahe
Ankunft des lieben Gefährten an. Sie
atmete tief auf, hinhuschend fiel ihr Blick
über die Hand, hing fest, erzitterte: Der
Ring mit dem Rubin fehlte ...
Gudrun von Sodenkerk hatte gesagt:
„... du wirst ihn verlieren, ohne es zu
wissen, wenn deine Sehnsucht auf der
Welt eine Heimat findet."
Tränen der Freude trug Annette in den
Augen, als sie nun dem geliebten Gaste
über die breiten Stufen der Terrasse hin
entgegenschritt.
Man redete viel über den Besuch. Nie-
mand aber wagte ein übles Wort. Annette
stand mitten im Sommer ihres Lebens.
Der Freund wohnte nun schon die vierte
Woche bei ihr. Die Abende wurden am
Spinett verbracht, man plauderte über
die Kunst, und Annette, die kluge Frau,
bewegte alle Worte des Freundes solange,
Heft L 7 T
zu den Kindern hinübergeblickt hatte, die in die Christnacht
gehen durften, während sie sich mit dem Baume in der
Halle begnügen mußte. Sie streckte die schmalen, wei-
ßen Finger aus, als sie über das Land hinrief, und
nicht wußte warum. Die wärmende Seligkeit
dieses Sommers erschreckte sie durch die Bunt¬
heit der Gaben. Unergründliche Sehnsucht trank
ihr Herz leer, die Sonnenstrahlen waren Lan¬
zen, die der neue Tag wider sie warf, also,
daß sie hundertfach verwundet wurde. Die
Schönheit zerfloß im satten Blühen der
Heide, fremder Schmerz zuckte wie kleine
Flammen an allen Enden auf, bis sie die
Hände abwehrend entgegenhielt. Flam¬
men umloderten sie, blendeten die Augen,
wie gepeinigt riefen die Augen um Hilfe.
Die Wunder des Lebendigseins beschütte¬
ten sie mit allen schmerzhaften Empfin¬
dungen. Da wandte sich ihr Herz, sie drückte
sich ins warme Gras, krallte die Hände tief
in den Sommerboden und weinte. Die Trä¬
nen wurden sanft tröstende Mutterworte.
Und alltäglich ging Annette an den Moor¬
rand, an den Saum der blühenden Heide, sie
sah immer wieder fern die Menschen auf den
Brücken stehen, weit, in einem Lande, das kaum
ihre Träume erreichten. Mühsam kämpfte sie,
furchtsam lauschte sie auf die Lieder, die aus ihrem
Blut heraussangen, die aber auch aus der Erde auf-
steigen mochten. Und in einer furchtbar schmerzhaften
Sommernacht stand sie vom Lager auf, zündete den Leuchter
an und saß am Fenster. Silberne Sterne umstanden den
Mond. Die Dunkelheit war tief und kühl. Da erhob sich
Annette, öffnete das Fenster und stand wie am Ufer eines
Meeres. In goldenem Becher reichte sie diesem Meere ihre
Schmerzen dar, ein Geschenk. Ihr war, als schütte sie allen Gesang, den
das Leben in tiefer Not aus ihrem Herzen gelockt hatte, in dieses Meer.
Und eine tiefe Verklärung blieb in ihrer Seele zurück. Sie zog die Hände
aus der kühlen Nacht wieder zurück, schloß das Fenster und saß bei dem
Leuchter. Die Feder knisterte mit weichem Kiele über das Papier. Annette
schrieb ein Gedicht, sie gab ihrem Schmerz ein Leben. Und als sie den Worten
noch einmal nachging, wie man Kindern
wohl nachgeht, die man zum ersten Male
wandernd durch die Nähe sendet, da zit¬
terte das Auge über ihrer Hand. Sie er¬
schrak so, daß sie aufschrie. Der Ring mit
dem Smaragd fehlte am dritten Finger
ihrer linken Hand. Sie durchsuchte ihr
Zimmer, die Kerze wanderte wohl um
eine Stunde unermüdlich hin und her.
Sie fand den Ning nicht wieder. Am
nächsten Tage suchten die Beschließerin
und alle, die dem Schlosse innewohnten,
den schmalen Gang ab, der unter diesem
Fenster zwischen Schloßmauer und Wall¬
graben hinführt. Der Ring mußte in das
dunkle Wasser gefallen sein, während seine
Hüterin die Hände in erlösendem Gebet
in die Nacht hinausgestreckt hatte.
Nahe den Bergen wachte ein schloß-
haftes Haus über das zu seinen Füßen
hinfließende Land. Der schmale über-
ragende Turm war wie die Hellebarde des
steinernen Hüters. Annette lebte im frü-
hen Mittag ihres Lebens. Ihr Weg war
versonnen, ihre Hoffnung war Herrin
eines weltfernen Landes. Die Augen be-
gegneten dem Leben wie einem Freunde,
in dessen Armen die Sehnsucht schon früh
gestorb en ist. Ihre Hände flackerten manch¬
mal. So ein Handflackern ist immer ein
verschwiegener Schrei. Nur wenige Hände
dieser Welt haben die kostbare Gabe, dem
Herzen seine Mühen abzunehmen. So
ein Handflackern ist immer ein Nach-
schauen, daß des Herzens Träume keine